May 04, 2013

Frank Schult



FRANK SCHULT
1948 in Ilmenau/Thüringen geboren. 1972-77 Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. 1980-85 Meisterschüler bei Willi Sitte. 1988 Ausbürgerung aus der DDR in die BRD. Ab 1990 in Celle ansässig. 1993-95 Lehrtätigkeit, 2000 Gastprofessur an der Fachhochschule für Gestaltung, Hamburg. Ateliers in Celle und Hamburg.

Ausstellung
DU WILLST DOCH NICHT SAGEN, DAS SOLL SO BLEIBEN?
Marburger Kunstverein e.V. (21.12.2012-7.2.2013)
Galerie Herold, Hamburg (22.1.-28.2.2013)
Katalog

Frank Schult: Beschirmt, 2012
Öl auf Leinwand, 240 x 200 cm

Axel Feuß:
HOTEL ERDE - WELTTHEATER

Der Hut, ein klares Augenweiß, knapp unter der Bildmitte ein Muff, der die Hände verbirgt, zwei Knie, ein Paar Schuhe, nach rechts eine Landschaft, aus der im Hintergrund ein See hervorschimmert und die vorn durch architektonische Versatzstücke begrenzt wird. Ich sehe etwas, das auf dem Gemälde von Frank Schult gar nicht vorhanden ist: Johann Heinrich Tischbeins „Goethe in der Campagna“.  Ich sehe es sofort und die erste Assoziation lässt sich nicht mehr vertreiben. Frank Schult erklärt, der kleine Junge mit dem breitkrempigen Hut, der auf dem Bild dargestellt ist, mit einem Muff, nackten Knien und kleinen Stiefeln, sei er selbst, fotografiert in Ilmenau, als er vielleicht vier Jahre alt war. Zu Goethe besteht tatsächlich eine enge Beziehung. In Ilmenau, dem Geburtsort des Malers, verfasste der Geheimrat mehrere seiner Werke. In der Umgebung spielen weite Passagen seiner Romane zu „Wilhelm Meister“, mit denen sich Schult intensiv beschäftigte.

Frank Schult: Kalte Kindertage, 2012
Dispersion, Öl auf Leinwnd, 190 x 190 cm

Doch wie passen meine Assoziation und die historischen Fakten zusammen? Im vorangegangenen Katalog (1) findet sich die Fotografie. Dort steht tatsächlich der selbe kleine Junge mit runden Bäckchen, schmollendem Mund und nackten Knien vor einer mit Schindeln bedeckten Hauswand und wird im nächsten Moment nach rechts aus dem Bild stapfen. Von da hat ihn der Maler an den linken Bildrand verschoben - dorthin, wo auch Tischbeins Goethe sitzt. Bei Tischbein richtet Goethe das Weiß seines Auges prüfend in die Ferne. Knapp unter der Bildmitte, im eigentlichen Fokus des Betrachters, ist Goethes Schreibhand drapiert. Die Linke ist zur Hälfte unter einem weißen Gewand verborgen. Sie liegt knapp oberhalb des Knies mit der Kniebundhose, den weißen Strümpfen und schwarzen Schnürschuhen. Im Hintergrund schimmert bräunlich-bläulich die Landschaft der Campagna. Der Vordergrund wird durch ein klassisches Relief und architektonische Trümmer begrenzt.

Hinter dem Kompositionsprinzip und in zahlreichen Motiven von Schults Gemälde verbirgt sich Tischbeins „Goethe“, eines der berühmtesten und mit hohem Bildungsgut beladenen deutschen Gemälde, von Frank Schult bewusst oder unbewusst adaptiert. Auslöser war vielleicht die große Kopfbedeckung, die als „Dichterhut“ interpretiert werden kann. Der ehemals kleine Junge ist nun auf dem Gemälde riesengroß mit säulenstarken Beinen und nacktem Oberkörper dargestellt, trotzig mit verkniffenem Mund, fast ein Kaspar Hauser, der zugleich stark und verletzlich, kaum bekleidet und mit festen Schuhen, dumpf und schlau, noch ein Kind und schon erwachsen in die Welt tritt, ihr die hutumkränzte Stirn bietet und dessen im Muff verborgene Hände sich dennoch nach Wärme und Geborgenheit sehnen. Die ihn umgebende Landschaft ist feindlich und grau. Am Boden liegt wie eine Brücke eine technische Konstruktion, vielleicht ein Reißbrett. Eine Wand aus breiten Pinselstrichen und grauen Schlieren ragt ihm entgegen. Über den Himmel sausen rundliche Gebilde, das mittlere vielleicht eine Malerpalette. 

Das Bild ist ruhiger, überlegter und bühnenmäßiger komponiert als Schults zwischen 1995 und 2005 entstandenen Gemälde.(2) In den Bildern des zurückliegenden Jahrzehnts schien es, als würden immer neue Einzelmotive aus dem Unterbewusstsein des Malers aufsteigen und in einem zunehmend dichter werdenden Geflecht aus Übermalungen in der Schwebe gehalten oder hinter andere Bildzeichen zurückfallen. Jetzt scheint er in Bildebenen zu denken: eine biographische, eine allgemein-menschliche, eine literarische und eine kunsthistorische, die sich in ihren Bedeutungen überlagern und in sich noch einmal widersprüchlich sind. Denn nicht nur die Figur des Knaben ist ambivalent und doppeldeutig. Die Landschaft erscheint zugleich feindlich und romantisch, technisch konstruiert und naturnah. Das Goethe-Motiv wird durch den verbiesterten Blick und die standhaften Beine des Jungen, das Kaspar-Hauser-Motiv durch den Muff gestört. Schult arbeitet auf einer Malfläche an mehreren Bildern gleichzeitig, die übereinander liegen, und an mindestens zwei, die sich gegenläufig entwickeln: Das eine beginnt rechts im Vordergrund mit dramatisch arangierten Architekturmotiven und läuft nach hinten in einer romantischen Seenlandschaft aus. Das andere beginnt am linken Bildrand mit geschossartigen Himmelserscheinungen und lässt einen jungenhaften Kaspar Hauser in eine feindliche Welt treten. 

In ambivalent feindlich-romantischer Umgebung wird die Gestalt des Jungen zur Heldenfigur. Sie steht solitär in der Welt und ist doch gefangen in vielerlei biographischen, menschlichen und kulturhistorischen Beziehungen. Wir haben schon früher gezeigt, dass Schults menschliche Figuren in der Tradition der Figurenbilder von Klimt, Kokoschka und Beckmann stehen,(3) vermittelt durch Bernhard Heisig, bei dem er studierte. Wie Klimt schafft Schult menschliche Allegorien, die aus traumhaften Tiefenräumen aufsteigen und die um Liebe und Erkenntnis ringen. Wie Kokoschka und Beckmann verknüpft er Biographisches mit mythologischen Themen und gelangt so zur vieldeutigen Umschreibung des in die Zeitgeschichte eingebundenen Lebens. 

Durch die Arbeit an Bühnenbild und Theaterplakaten setzt Schult sich ständig mit literarischen und dramatischen Stoffen auseinander. Die tragisch scheiternden Helden, Shakespeares „Hamlet“, Lessings „Nathan“, Hofmannsthals „Jedermann“, Shakespeares „Othello“ und Molnárs „Liliom“, für die Schult Bühnenräume (4) und Plakatentwürfe (5) schuf, stehen seiner eigenen Bildwelt am nächsten. Auch Goethes „Wilhelm Meister“ ist eine ambivalente Gestalt, deren Träume an der Realität des Lebens gemessen werden: Der zur Lebensmeisterschaft herangebildete Held kann am Ende seiner Lehrjahre doch nur Gelerntes weitergeben und erfährt während seiner Wanderjahre, dass er persönlichen Wünschen entsagen muss. Schults Bilder von Wanderern schließen daran an. Unschlüssig steht der Wanderer in der neuesten Fassung im Bild. Den Stab locker gefasst, zeigen Stand- und Spielbein in unterschiedliche Richtungen. Mit dem linken Arm scheint er nach jemandem zu greifen, ernst und unsicher blickt er sich um. Vor sich hat er eine aus Bäumen, Haustüren, Wänden, Bergen, Schluchten und totenkopfartigen Zeichen merkwürdig versperrte Welt, der er nicht kraftvoll gegenüber steht, sondern die durch ihn hindurch scheint. Farben, Formen, Zeichen überdeckend und lasierend, ineinander verlaufend oder mit harten Kontrasten, breitflächig nass heruntertropfend oder mit dünnem Strich auf die Oberfläche geschrieben sind die künstlerischen Mittel, die die Vielschichtigkeit der Welt und die komplexen intellektuellen und psychischen Einfllüsse auf die Figur des zögernden Helden beschreiben. Varianten sind dem Bild vorausgegangen: „Wilhelms Heimweg“ (2006) und „Heimkehrer I“ und „II“ (2003).(6) Schults Gemälde sind jedoch keine Illustrationen zu literarischen Vorbildern. Sie sind eigenständige Parabeln, die allgemeine Wahrheiten durch als Gleichnis zu deutende Bilderfindungen vermitteln.

Frank Schult: Lucretia, 2008
Öl auf Leinwand, 160 x 200 cm

Die Hauptrollen seiner auf die Leinwand übertragenen Bühnenstücke besetzt Schult meist mit Männern, die aber nicht immer Helden sind. Kommen Frauen ins Spiel, werden sie zu Voyeuren, Killern oder lassen ihr Leben. Ein Rollstuhlfahrer mit feinem Gesicht und gesittetem Gewand erblickt in einem traumhaften großen Oval die entblößte Frau als ewig unerreichbares Wunschbild. Aus einem Becken steigt ein flammend rotes Geschöpf mit Totenschädel und langem schwarzen Haar, an Ringen aufgehängt, mit männlichem Geschlecht und hängender Brust, Mann, Frau oder Hermaphrodit. Ferngesteuerte Hände greifen nach dieser Verkörperung unterweltlicher sexueller Lust ebenso wie nach einer Schönheit im Hintergrund. Ein riesengroßer Schlagring symbolisiert latente Gewalt.

Frank Schult: Kalypso, 2012
Disperion, Öl auf Leinwand, 260 x 190 cm

Vor männlichem Publikum, das sich als alt, hässlich, bebrillt und kahlköpfig offenbart und von Totenköpfen und einer grünen Maske begleitet wird, präsentiert sich mit hinten herabgelassenem Gewand und emporgereckten Armen Aphrodite, die ihre Schönheit den Männern zur Schau stellt. Mit verbundenen Augen und auf Klavierfüße gestellt, dreht sie als Lustobjekt auf Rollen die ihr vorbestimmte Bahn. Nach der antiken Mythologie heißt sie Phryne, die dem Aphroditestandbild des Praxiteles ihre Schönheit gab und dafür der Gotteslästerung angeklagt wurde. Nun entblößt sie sich vor den Richtern, um durch ihre Schönheit ein mildes Urteil zu erlangen. Schult stellt Blau als Farbe der Phryne dem Rot der Richter gegenüber wie Jean Léon Gérôme auf seinem Gemälde „Phryne vor den Richtern“, das eines der Vorbilder ist.(7) Aber auch „Das Urteil des Paris“ kann Grundlage für die Szene gewesen sein, denn Maler von Rubens bis Feuerbach stellten Aphrodite als nackte Rückenfigur in dem Augenblick dar, als sie dem schönen Jüngling Paris die Liebe Helenas verspricht, wenn er Aphrodite den höchsten Preis der Schönheit zuerkennt.(8)

Frank Schult: Tochter des Pianisten, 2012
Dispersion, Öl auf Leinwand, 190 x 190 cm

Die Folgen des Schönheitswahns werden dem Betrachter ebenfalls im Gewand antiker Mythologie präsentiert. In einer Variante des Bildes stellt Schult Phryne-Aphrodite, die auf Klavierbeinrollen ihre Kreise zieht, Judith mit dem abgeschlagenen Haupt des Holofernes gegenüber. Er, Heerführer der Assyrer, hatte sich von ihrer Schönheit blenden lassen und war von Judith enthauptet worden. Sie, eine fromme Witwe, sah in dem Mord die letzte Möglichkeit, das von den Babyloniern bedrohte jüdische Volk zu retten. Schult verwendet Stilmittel des zeitgenössischen Theaters: Er überträgt antike, mythologische und literarische Themen in die Gegenwart, um das menschliche Drama von Liebe, Lust und Leidenschaft als zu jeder Zeit Allgemeingültiges zu beschreiben.

Frank Schult: Holofernes, 2012
Mischtechnik, 40 x 50 cm

„Hotel Erde“, das ist keine Welt, in der Frank Schult uns bequem wohnen lässt. Das so betitelte Bild stellt Fragen und gibt Antworten: „Du willst doch nicht sagen es soll so bleiben?“ „Alle Fragen sind beantwortet“. Die Frage des Malers, ob dieses Bild nicht überarbeitet werden muss, ist seine Frage an die Welt. Nichts kann so bleiben, und dass alle Fragen beantwortet sind, haben wir ohnehin nicht geglaubt. Doch das Welttheater, das Schult auf der Bildfläche bespielt, ist immer das gleiche: Aphrodite liegt mit verbundenen Augen und gespreizten Beinen quer im Bild. Männer glotzen aus allen Richtungen: mit gelbem Gesicht und ausgestreckter Zunge aus dem Bild heraus, hinter einer Wand hervor, als Büste oder dumpfer Automat halbiert und zu einem Totenkopf komplettiert. Wenn Antworten ausbleiben, steigen Männerträume auf. Der Ritt auf einer Champagnerflasche, die als Flaschenpost im offenen Meer treibt, ist so ein Männertraum. Umfunktioniert zum Unterseeboot, steuert sie der Held auf blutrotem Meer oder in einer anderen Version auf dem gelben Meer der Eifersucht dem sicheren Untergang entgegen.

Frank Schult: Flaschenpost, 2012
Öl auf Leinwand, 200 x 300 cm

„Hotel Erde“ ist Heimat und Bedrohung, Geborgenheit und Unbehaustsein zugleich. Als Christophorus steht der Maler selbst in tiefem Wasser, hält den Baumstamm als Wanderstab fest umklammert und strebt der Heimat an der Ilm entgegen. Anders als der Heilige trägt er nicht Christus, sondern die eigene seelische Last auf den Schultern. Ein dunkelblauer Wald, in den ein breiter Weg hineinführt, ist Symbol für Geborgenheit, aber auch für Gefahren, die darin drohen. Das Bild eines Innenraums, von dem Schult Ecke, Tür und Fenster zeigt, wirkt ähnlich ambivalent. Er ist bergendes, lichtdurchflutetes Gehäuse, in Wirklichkeit jedoch kalt und leer. Eine Landschaft, durch Horizontlinie, Bodenstrukturen, Wolken und Lichtstreifen beschrieben und in Schwarz und Weiß abstrakt strukturiert, wirkt vertraut und abweisend zugleich. Durch Reduktion auf wenige Gestaltungsmittel und stark reduzierte Farbigkeit werden Wald, Innenraum und Landschaft zu Metaphern existenzieller Empfindungen von Geborgenheit und Bedrohung, Behaustsein und Leere. Sie erinnern an die Reduktion landschaftlicher Motive bei Anselm Kiefer, dessen Ackerfurchen, Baumstammreihen und leere holzbeplankte Innenräume mythologische Folie für die Darstellung deutscher Geschichte sind. Bei Schult schwingen diese Bedeutungen mit, denn Metaphern wie der deutsche Wald, herrschaftliche Innenräume, wolkenverhangene Landschaft und ein mühselig beladener, die Welt rettender Christophorus können in der zeitgenössischen Kunst kaum ohne Bezug auf die deutsche Geschichte des zurückliegenden Jahrhunderts gedeutet werden. Jedoch stehen bei Schult weniger historisch-politische als vielmehr existenzielle Dinge im Mittelpunkt.

Frank Schult: Christophorus, 2012
Öl auf Leinwand, 190 x 160 cm

In einer Gruppe von Bildern und Skulpturen zeigt Schult architektonische Sujets, die mit Säulen, Gebälken und Giebeln wie klassizistische Veduten wirken und vielleicht Bühnenentwürfe für antike Dramen sind. Andere erinnern durch Verstrebungen und Treppen, die ins Leere laufen, an Giovanni Battista Piranesis berühmte Radierungen der „Carceri“ (1745-50), fiktive Entwürfe für Kerker, die die Einsamkeit klassischer Veduten auf die Spitze treiben. Schults Entwürfe sind ebenfalls menschenleer. Sie balancieren zwischen Verfall und surrealem Neubeginn. In alter verfallender Architektur entstehen neue Strukturen. Einige Skulpturen wirken wie Wohnmaschinen, in denen Einsamkeit und Geborgenheit gleichermaßen möglich sind.

Frank Schult: Skulptur, 2011
Pappe, 60 x 40 x 40 cm

Im Vergleich zum Jahrzehnt 1995-2005 hat Schult seine Bildmittel wesentlich erweitert. Seinerzeit wirkten seine großen Figurenbilder wie Parallelschnitte, in denen er die Helden mit immer neuen Traumgebilden und aus dem Unterbewussten aufsteigenden Motiven, Symbolen und Geschichten konfrontierte. Heute steigt er in der Kunstgeschichte und in den Bildsujets auf und ab und schließt Szenenbild, Bühnenraum, Landschaft, Interieur und Architekturentwurf in seine Bildsprache ein. Sein Welttheater hat neue Erzählräume gewonnen. 

1 Frank Schult. Holztheater, Ausst.-Kat. Kunstverein Buchholz Nordheide, 2006, S. 145

2 Ausst.-Kat. Holztheater, 2006

3 Axel Feuß: Positionen zum Menschenbild, in: Ausst.-Kat. Holztheater, 2006, S. 11-18

4 Heinz Thiel: Bühnen-Bilder & Bilder-Bühnen.  Ein Blick in den theatralischen Kosmos von Frank Schult, in: Ausst.-Kat. Holztheater, 2006, S. 25-35; Jürgen Kern: Theaterzeit, ebd., S. 139-141

5 Holunder. Frank Schult. Theaterplakate, Schlosstheater Celle, 2010

6 Ausst.-Kat. Holztheater, 2006, S. 75, 68, 72

7 Jean Léon Gérôme: Phryne vor den Richtern, 1861, Hamburger Kunsthalle

8 Anselm Feuerbach: Das Urteil des Paris, 1870, Hamburger Kunsthalle