Ausstellung
GERT
FABRITIUS – DIE LINIE ZU SPÜREN
Ausstellung in der Galerie per-seh
Ausstellung in der Galerie per-seh
Axel
Feuß:
DEN MYTHOS ZU LEBEN
Gelegentlich ist es gut, einen Schritt zurück zu treten und das Gesamtwerk eines Künstlers noch einmal im Überblick zu betrachten - insbesondere, wenn man einen Künstler gut zu kennen glaubt, wenn schon alles gesagt ist, wenn er gerade selbst Rückschau hält oder zu neuen Ufern aufbricht. Bei Gert Fabritius ist dies alles gleichzeitig der Fall.
DEN MYTHOS ZU LEBEN
Gelegentlich ist es gut, einen Schritt zurück zu treten und das Gesamtwerk eines Künstlers noch einmal im Überblick zu betrachten - insbesondere, wenn man einen Künstler gut zu kennen glaubt, wenn schon alles gesagt ist, wenn er gerade selbst Rückschau hält oder zu neuen Ufern aufbricht. Bei Gert Fabritius ist dies alles gleichzeitig der Fall.
1997
haben wir anlässlich der Verleihung des Lovis-Corinth-Sonderpreises an Gert
Fabritius durch die Künstlergilde Esslingen im Museum Ostdeutsche Galerie in
Regensburg die bis dahin entstandenen Werkgruppen ausführlich gewürdigt und mit
der zeitgenössischen Kunst konfrontiert.(1) Fabritius war nach seinem
Studium 1961-67 an der Kunstakademie in Klausenburg zunächst ein Jahrzehnt lang
als Illustrator für die deutschsprachige Presse und für Buchverlage in Bukarest
tätig. Als die politische Situation in Rumänien für den deutschen
Bevölkerungsteil unerträglich wurde, siedelte er 1977 zusammen mit seiner Frau,
der Textilkünstlerin Eva Fabritius, in den Westen über und ließ sich im
Stuttgarter Raum nieder. Dort entstand in den folgenden Jahren in der Technik
des Holzschnitts eine Serie lebensgroßer expressiv aufgefasster Figurenbilder,
die im Übereinanderdruck verschiedener Plattenzustände und Farben Tiefenräume
menschlicher Seelenzustände offenbarten.
Es folgten ab 1983 ebenso große Zeichnungen nackter, aber vielfach
überzeichneter menschlicher Figuren, die sich in Gruppen einander zu oder
voneinander abwandten und die rang- und rollenlos „nackte“ menschliche Existenz
verkörperten („Segelzustände“, 1983-85).
Seit der Mitte des Jahrzehnts begann der Künstler, seine großen Figurenholzschnitte mit schwarzer und farbigen Kreiden und Weißhöhungen zu übermalen und mit roter Farbe zu übersprühen. Sah er in der körperlichen Arbeit am Holz wie vor ihm die Expressionisten unmittelbaren seelischen Ausdruck, so verkörperte sich in den gestischen Übermalungen wie bei den Künstlern des Informel das Unbewusste der menschlichen Psyche. Er griff Themen der christlichen Mythologie („Hochzeit zu Kanaan“, 1987) und der Antike („Jason und Medea“, 1992) auf, die er – wie Künstler der ersten Nachkriegszeit – als paradigmatisch für Grundprobleme der menschlichen Existenz empfand. 1988/89 reagierte er mit einem Mappenwerk zum „Totentanz“ des modernen Menschen auf die sich in Umweltzerstörungen, politischen Wirren und globalen Seuchen manifestierenden Bedrohungen. Bewusst stellte er sich mit dem in Holz geschnittenen Zyklus in die Tradition religiöser und politischer Graphik, die seit dem Mittelalter alle Jahrhunderte hindurch in der Technik des Holzschnitts und häufig mit Darstellungen des „Totentanzes“ auf Endzeitstimmungen reagierte.
Gert Fabritius: Standort I, 1984
Graphit, Aquarell, Buntstift, 84 x 119 cm
Seit der Mitte des Jahrzehnts begann der Künstler, seine großen Figurenholzschnitte mit schwarzer und farbigen Kreiden und Weißhöhungen zu übermalen und mit roter Farbe zu übersprühen. Sah er in der körperlichen Arbeit am Holz wie vor ihm die Expressionisten unmittelbaren seelischen Ausdruck, so verkörperte sich in den gestischen Übermalungen wie bei den Künstlern des Informel das Unbewusste der menschlichen Psyche. Er griff Themen der christlichen Mythologie („Hochzeit zu Kanaan“, 1987) und der Antike („Jason und Medea“, 1992) auf, die er – wie Künstler der ersten Nachkriegszeit – als paradigmatisch für Grundprobleme der menschlichen Existenz empfand. 1988/89 reagierte er mit einem Mappenwerk zum „Totentanz“ des modernen Menschen auf die sich in Umweltzerstörungen, politischen Wirren und globalen Seuchen manifestierenden Bedrohungen. Bewusst stellte er sich mit dem in Holz geschnittenen Zyklus in die Tradition religiöser und politischer Graphik, die seit dem Mittelalter alle Jahrhunderte hindurch in der Technik des Holzschnitts und häufig mit Darstellungen des „Totentanzes“ auf Endzeitstimmungen reagierte.
Gert Fabritius: Zeitgenössischer Totentanz. Tod und Atom, 1988
Holzschnitt auf Bütten, 75 x 53 cm
Ab
1992 ersetzte Fabritius wiederum in großformatigen übermalten auf Bütten oder
Leinwand gedruckten Farbholzschnitten die menschliche Figur durch Symbolformen.
Stühle standen seitdem als Memento für alles, was den Menschen in seiner
Existenz betrifft, und als Repräsentanten für geistige und weltliche Macht.
Oder sie bedeuteten ganz konkret die Ende des 19. Jahrhunderts aufgelösten
Verwaltungseinheiten („Stühle“) der Siebenbürger Sachsen, die sich seitdem und
bis heute zu Chiffren für deren Freiheit, Selbstbestimmung und kulturelles
Gedächtnis verfestigten.(2) 1996 begann er, aus
verwendeten Druckstöcken Stelen und Stuhlobjekte zu bauen, die, auf lange
Längsholme montiert und mit einer Treppenstufe verbunden, auch als Sänfte,
Kniebank und Lesepult denkbar waren („Transportable Heimat“, 2000). Es
entstanden wandfüllende Tableaus aus bis zu vierzehn in unterschiedlichen Ausschnitten
gedruckten Holzschnitten, bei denen es schien, als würden Stühle aus dem Himmel
herab schweben, von denen zuerst nur die Beine, dann der mittlere Teil und
schließlich der Stuhl in seiner ganzen symbolischen Vollendung sichtbar wurden
(„Guten Morgen lieber Stuhl“, 1996/97).
Gert Fabritius: Guten Morgen, lieber Stuhl!, 1997
Holzschnitte auf Bütten, je 90 x 63 cm
Nach einer Serie von Zeichnungen mit Schiffen, die nach langer Reise auf dem Trockenen liegen und die er mit Baken, Stühlen, Hütten, Leitern – alles Symbole für das Besetzen eines neuen Standorts, das Abstecken eines neuen Gebiets, Gründen neuer Existenz, Emporklimmen zu neuen Ufern, „Chiffren des Menschlichen“(3) – konfrontierte, schuf der Künstler ab 2000 einen Zyklus von Booten, Schiffen, Archen, wieder großformatige über- und untermalte und collagierte Holzschnitte als Einmaldrucke, den er 2004 im Altonaer Museum in Hamburg unter dem Titel „Mutmaßungen über die Arche – Denn wir sind nur das, was wir nicht vergessen haben“ zeigte. Seine Archen bargen Erinnerungen, Kulturgut, und waren Symbole für das kulturelle Gedächtnis, das den Menschen erst zu einem denkenden, fühlenden, sozialen und überhaupt existenten Wesen macht. Dass diese Archen, die er wieder mit Himmels- oder Jakobsleitern und Stühlen instrumentierte und die zahlreiche literarische Assoziationen wie Jasons Ausfahrt mit den Argonauten, die Sintflut der Bibel und des Gilgamesch-Epos, Nietzsches „Schiff der Menschheit“ und vieles mehr mit sich führten,(4) auch „Heimat“, den „Mythos Heimat“, die verlorene Heimat Siebenbürgen verkörperten, sollte sich erst später konkretisieren.
Gert Fabritius: Glückliches Boot, 2009
Holzschnitt mit Übermalung auf Leinwand, 50 x 130 cm
Bis 2004 kehrte der Künstler zur figürlichen Darstellung zurück, die sich zunächst in gezeichneten und gemalten Tagebüchern und erneut in mythologischen Gestalten manifestierte. Immerwährende und bis heute variierte Motive sind Minotauros und Sisyphos, deren Geschichten bekanntlich nie enden: Minotauros, halb Mensch, halb Tier, wurde für den Fehltritt seiner Mutter mit einem hölzernen Stier zu einem Leben im Labyrinth verdammt. Sisyphos, der unbefugterweise Pluto, den Gott der Unterwelt, zweimal überlistete, bestraften die Götter mit der niemals endenden Mühe, einen Felsen auf einen Berg hinaufzuwälzen, damit dieser stets wieder herabrollt. Es liegt auf der Hand, dass die privaten Aufzeichnungen, die am Feierabend nach dem Dienst als Kunstlehrer entstanden und die der Künstler erst nach Vollendung von zwanzig Bänden in einer Buchauswahl der 2004 entstandenen Zeichnungen dem Publikum zugänglich machte,(5) die Mühsal des eigenen Lebens beschreiben. Auch Aphorismen und Literaturzitate, die den 35,5 mal 53 Zentimeter messenden Doppelseiten beigegeben sind, deuten darauf hin. Doch der Künstler zeichnet mit derart sicherem, schnellem Graphitstrich satirisch zugespitzte und mit reinem Rot, Blau, Gelb und Grün in Öl und Acryl kraftvoll kolorierte Geschichten seiner beiden Protagonisten, dass der bildmäßige und allgemein gültige Charakter jeder Doppelseite schnell überwiegt.
Gert Fabritius: Tagebuch, 2011
Anders als in der antiken Mythologie begegnen sich bei Fabritius Minotauros und Sisyphos. Der Stierköpfige jongliert mit Sisyphos’ Stein, stützt sich auf ihm ab, blickt verächtlich auf ihn herunter, gähnt uns frühjahrsmüde an, balanciert ein Schiff auf hoch erhobenen Armen und traut dabei keiner guten Nachricht. Er klettert auf eine Leiter und betrachtet über die Schulter hinweg seine Großfamilie, streckt in Anbetracht des schwebenden Steins die Zunge heraus und uns das Hinterteil entgegen. Minotauros entpuppt sich als Berserker und widersetzt sich mit vorgestreckten Hörnern seinem Schicksal.
Gert Fabritius: Tagebuch, 2011
Gert Fabritius: Minotauros, 2010
Bronze, Holz, Höhe 180 cm
Ab 2004 übertrug Fabritius Szenen, in denen Minotauros, Sisyphos und auch der Künstler selbst nebeneinander agieren, auf große auf Leinwand gedruckte und übermalte Holzschnitte. Die satirische Überspitzung der Tagebuchzeichnungen wich einer Vereinsamung der Figuren, die allein, zu zweit und als Spiegelbild oder wie dieselbe Person in verschiedenen Phasen eines Bühnenstücks agieren. Minotauros begegnet uns in zwei durch eine Leiter getrennten Zuständen, dem Betrachter zu- und abgewandt, schwebt ein anderes Mal zum Sprung bereit über einer Leiter, in einer anderen Version über dem in einem durchlöcherten Stuhl gefangenen Selbstbildnis des Künstlers. Er begegnet auf einem Diptychon (links) seinem Ebenbild mit gestutzten Hörnern und (rechts) Sisyphos, der Leiter-Stein-Haus in verschränkten Händen auf dem Rücken trägt. Sisyphos erklimmt Leitern, auf denen Luftballons Sehnsüchte und Trugbilder symbolisieren, und trägt auf der selben Bildfläche einen schweren Fels. Er sitzt sinnend auf einem Stein und greift gleichzeitig fluchtartig nach dem Licht einer im Raum schwebenden Lampe. Er lässt sich (auf einem Triptychon links) vom Trugbild des mit Stühlen bemalten Luftballons blenden, tanzt (mittig) auf einem Stein und trägt den schweren Fels mit sich fort und beobachtet (rechts), wie Steine hinter der Leiter, die er gerade erklimmen will, wieder herabstürzen.
Gert Fabritius: Minosisyphos, 2010
Holzschnitt, Übermalung auf Leinwand, 175 x 90 cm
Hommage „À Camus“ (2005), „Wir erzählen unser Universum“ (2006) oder „Flucht – Sehnsucht“ (2006) sind die Titel der im Grunde immer gleichen absurden Geschichte des Lebens, in der Sehnsucht nach Heimat, Erleuchtung, Erkenntnis und Glück von Mühsal und ewigem Scheitern abgelöst werden. Es sind Variationen, in denen der Künstler Druckstöcke derselben Figur zu neuen Szenen und altarähnlichen Tableaus zusammenfügt als wolle er – wie die Wandelaltäre des Mittelalters – die Erkenntnis der Welt mit großen Figuren, starken Farben und szenarischen Varianten lehrhaft vermitteln. Die Nähe zu Bildern christlicher Legenden ist nicht allzu weit hergeholt. Denn 2006 schnitt Fabritius die auf einem Boot stehende Figur des „Ahasver“ in Holz, die nach christlichen Legenden des 13. Jahrhunderts jener arme Schuster ist, der Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung verspottete und daraufhin verdammt wurde, bis in alle Ewigkeit ruhe- und heimatlos auf der Welt umherzuirren. Nach dem Gedicht des aus dem rumänischen Czernowitz stammenden jüdischen Dichters Immanuel Weißglas (1920-1979), auf das sich Fabritius bezieht,(8) ist er der ewige Fremde, der vom Erzengel „aus fremder Heimat in die Heimatfremde“ vertrieben wird. In Fabritius‘ mythologischer Welt ist er neben Minotauros und Sisyphos ein weiterer Getriebener, der in rastloser Tätigkeit vor dem Trugbild immer neuer Hoffnungen sein Leben fristen muss.
Gert Fabritius: Mondmann, 2012
Holzschnitt, Übermalung auf Leinwand, 100 x 75 cm
Weitere große Figuren kamen in den letzten Jahren hinzu. 2008/10 schuf der Künstler das Bild eines Tanzenden vor einem Boot, Sinnbild für Ausfahrt und Lebensweg, Abfahrt und Ankunft, der dem früheren Sisyphos ähnelt, jetzt aber weder Steinträger noch Minotauros ist, obwohl Fabritius das Bild mit dem Titel „Dem Absurden ins Auge sehen“ Camus widmete. 2010 entstand ein Selbstbildnis des Künstlers, das dieser unter dem Motto „Yes I can“ aus einem Druckstock und zwei (spiegelbildlichen) Abdrucken zu einem Triptychon zusammenfügte. 2011 erblickten Adam und Eva das Licht der Welt, die sich unter dem Titel „Ursprung“ als gedruckte und übermalte Holzschnitte in Gestik und Körperhaltung einander zu und gleichzeitig von einander abwenden; als Objekt „Fahne“, das aus den beiden dazu gehörenden Druckstöcken montiert ist, verkünden sie ewiges Lebensprinzip. 2011 kamen große Holzschnitte mit grau und rot gedruckten „lebensgroßen“ Engeln hinzu, die sich zu einer mehrteiligen Installation aus Drucken, Druckstock und Objekt unter dem Titel „Mythos Heimat“ gruppieren. 2012 entstand unter dem Titel „Allein mit sich“ die fast lebensgroße in sich versunkene Figur eines Wanderers, die möglichweise auch ein Selbstporträt des Künstlers ist. Fabritius, der seine Themen schon früher wechselnd aus der antiken und christlichen Mythologie und eigenen Befindlichkeiten schöpfte, stellt jetzt in schneller Folge große Figuren aus allen drei Themenkreisen einander gegenüber. Zusammen sind sie Repräsentanten eines allgemein gültigen existentialistischen Weltentwurfs, der sich aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschheit speist.
Gert Fabritius: Adam und Eva (Diptychon), 2010
Holschnitt, Übermalung auf Leinwand, je 160 x 65 cm
Kollektives Gedächtnis verkörpern auch jene vierzig in Holz geschnittenen Porträts, die der Künstler 2009 für eine Wandinstallation im Chor der Sankt Leonhardskirche in Stuttgart in Holz schnitt und auf 50 mal 50 Zentimenter große Leinwände druckte.(9) Es sind Menschen, die große Leistungen verkörpern und die Fabritius beeindruckten, wie Herta Müller, Pina Bausch, Oskar Pastior oder der ebenfalls aus Siebenbürgen stammende Bildhauer Ingo Glass, solche aus seinem privaten Umkreis wie seine Frau Eva Fabritius, der Künstler selbst oder Menschen, die als „Stuttgarter Kopf“ Unbekannte für uns bleiben. In der Installation erscheinen sie auch spiegelbildlich und auf dem Kopf stehend, konfrontiert mit leer bleibendenTafeln und einem Bildnis des Todes, um so zu allgemein gültigen Darstellungen des Menschlichen, zu „Ebenbildern Gottes“ zu werden, die als Repräsentanten der Menschheit und der Gemeinde vor den Altar treten.
Gert Fabritius: Pastior-Grass, 2012
Holschnitt, Stempeldruck, Übermalung auf Leinwand
150 x 50 cm
Die Porträts der Stuttgarter „Eben-Bild“-Installation erschienen auch in den großen Retrospektiven 2010 im Kleinhues-Bau in Kornwestheim (10) und 2011 im Donauschwäbischen Zentralmuseum in Ulm (11) einzeln und in neuen Reihen und Gruppierungen und sind auch in der neuesten Ausstellung zu sehen. In der Konfrontation mit den Figuren der antiken und christlichen Mythologie wird um so deutlicher, dass der einzelne persönliche Lebensentwurf Teil eines Jahrtausende alten kollektiven Gedächtnisses der Menschheit und sich wiederholender Grundmuster des Menschlichen ist. Die Gesamtschauen in Kornwestheim und Ulm waren mehr als die üblichen historischen Rückblicke auf das Gesamtwerk eines Künstlers. Holzschnitte, Druckstöcke und Tagebuch-Zeichnungen, frühe zeichenhaft-symbolische Arbeiten wie die Serie der Stuhl-Holzschnitte („Guten Morgen lieber Stuhl“, 1997), Boote, Archen und Leitern konfrontierte Fabritius an gegenüber liegenden Wänden mit den großen mythologischen Figuren und Selbstporträts zu einer einzigen großen Rauminstallation. Neue Objekte aus Druckstöcken, kombiniert mit altem Wagenrad, Pferdegeschirr und Chorgestühl, verstärkten die Assoziationen an heimatliche Relikte. Aus Holzschnitt-Porträts und Arche entstand ein neues Triptychon („Glückliches Boot“, 2009). Der Künstler hält nicht nur Rückschau auf sein gesamtes Werk. Er macht deutlich, das jede einzelne Arbeit Teil des Lebenszyklus ist, dass sich alle Zeichen, Mythen, menschlichen Antlitze, privaten Reflexionen und Literaturzitate aufeinander und gemeinsam auf Jahrtausende alte Grundprinzipien des Lebens beziehen.
Gert Fabritius: Dem Absurden ins Auge sehen I.
Sisyphos-Sänfte, 2010
Druckstock, Kummet, Schaufelgriffe, Leiterwagenrad,
85 x 165 x 53 cm
In der Rückschau des Künstlers hat das Problem „Heimat“ immer stärker an Gewicht gewonnen. Zur unstillbaren Sehnsucht tritt jedoch die Erkenntnis hinzu, dass beide, Heimat und Sehnsucht, zum Mythos geworden sind. Heimat aufgrund von Erfahrungen, Begegnungen und Bildern als „geistigen Ort“, „wandelbaren und veränderbaren Zustand“ zu erfahren, bezeichnet Fabritius als seinen persönlichen Mythos.(12) Um Vereinnahmungen zu entgehen, betont er, dass Heimat für ihn dort ist, „wo die Kulturen und auch die Sprachen des alten Europas unabhängig der nationalstaatlichen Grenzen fassbar sind“.(13) Fabritius ist ein politischer Mensch. Immer wieder reflektierte er in Holzschnitten („Zapfenstreich“, 1994) und satirischen Zeichnungen („Deutsche Befindlichkeiten I-IV“, 1999/2001) den schwierigen Umgang der Deutschen mit ihren nationalen Symbolen: der Fahne, der Sprache und dem Brandenburger Tor. Bei der Reflektion des Begriffs „Heimat“ hätte es so viel an „Political Correctness“ vielleicht gar nicht bedurft: Viele der in Deutschland beheimateten Migranten aus zahlreichen Ländern hätten schneller als die meisten Deutschen ein Statement zum Begriff „Heimat“ parat, dass sich von Fabritius‘ Einschätzungen gar nicht so sehr unterscheidet.
Gert Fabritius: Wo warst Du?, 2012
Graphit, Öl, Acryl auf Leinwand,140 x 200 cm
2012 sind in der aktuellen Ausstellung große Figurenbilder hinzu gekommen. Es sind weitere Minotauros- und Sisyphos-Szenen: eine Einzelfigur, die sich auf Günter Grass und Oskar Pastior bezieht, ein Ritt rücklings auf einem Pferd mit einem Adam-und-Eva-Motiv, ein verhalten abwehrender Mann im Mond, dessen Holzstock von einem früheren Sisyphos-Triptychon („Das große Glück“, 2006) stammt. Den Betrachtern sind jetzt hinreichend Möglichkeiten zur Interpretation an die Hand gegeben, so dass Spielraum für eigene Reflektionen bleibt. Die großen Sisyphos-Zeichnungen „Wo warst du?“ und „Wuni ich gon af de Bräck“ reflektieren das „Heimat“-Thema; denn sie zeigen den Protagonisten Purzelbaum schlagend und in heftigen Sprüngen über dem Stein, während er seine Heimat verliert: „Wann kehre ich wieder zurück? Wenn die Raben weiße Federn haben.“ Skizzenbuchblätter zeigen eindrucksvoll, dass sich der Künstler zunächst satirisch und mit schnellem Strich seinem Thema nähert, um es später mythologisch auszubauen. Skizzen und Tagebuch-Zeichnungen aus zurück liegenden Jahren variieren die Geschichten von Minotauros und Sisyphos. Neu sind hingegen Zeichnungen mit Adam-und-Eva- oder Ehemotiven, die das Menschheitspaar bei der Wanderung durchs Watt oder auf dem Weg des Lebens zeigen oder in denen sich der Künstler als „Watttänzer“ einsamen Reflektionen hingibt. Wir dürfen gespannt sein, ob Gert Fabritius auch sie zu großen mythologischen Figuren verarbeiten wird.
Gert Fabritius: Watttänzer, 2012
Graphit, Acryl auf Papier, 40 x 40 cm
(1) Axel Feuß: Gert Fabritius – Holzschneider und Zeichner, in: Lovis-Corinth-Preis , Ausst.-Kat. Museum Ostdeutsche Galerie, Regensburg 1997, S. 67-104
(2) Irmgard Sedler: Exkurs „Sieben
Stühle“, in: Ausst.-Kat. Gert Fabritius. Arche und Tod – Widerschein des Seins,
Museum im Kleinhues-Bau, Kornwestheim 2007, S. 15-21
(3) Stuhl, Barke und Leiter – Chiffren
des Menschlichen, in: Ausst.-Kat. Gert Fabritius. Dem Absurden ins Auge sehen,
hrsg. von Irmgard Sedler, Museum im Kleinhues-Bau, Kornwestheim 2010
(4) Günter Baumann: Gert Fabritius –
Arche und Tod, in: Ausst.-Kat. Gert Fabritius 2007 (s. Anm. 2), S. 4-10
(5) Gert Fabritius: Zu Sisyphos. Tagebuch
auf-Zeichnungen eines Unbefugten, Eigenverlag, Ostfildern-Ruit 2005
(6) Ausst.-Kat. Gert Fabritius. Dem
Absurden ins Auge sehen 2010 (s. Anm. 3), S. 4
(7) Irmgard Sedler: Dem Absurden ins Auge
sehen, ebd.
(8) Immanuel Weißglas: Ahasver, aus „Der
Nobiskrug“, 1972. Vgl. Ausst.-Kat. Gert Fabritius – Arche und Tod 2007 (s. Anm.
1), S. 58.
(9) Ausst.-Kat. Fabritius. Eben Bild,
Sankt Leonhardskirche Stuttgart, 2009
(10) Ausst.-Kat. Dem Absurden ins Auge
sehen 2010 (s. Anm. 3)
(11) Ausst.-Kat. Mythos Heimat. Heimat im
Mythos, Donauschwäbisches Zentralmuseum, Ulm 2011
(12) Gert Fabritius: Schnittpunkt Heimat,
Vortrag, Klausenburg 2012, Manuskript
(13) Ebd.