September 21, 2009

Ulrich Behl (2)



Aus Anlass des 70. Geburtstags von Ulrich Behl veröffentlichen wir hier eine ungedruckte Rede zur Ausstellungseröffnung in Kiel 2005. Die Fotos zeigen Ulrich Behl 1997 in der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom.
Fotos: Axel Feuß

Axel Feuß:
REDE ANLÄSSLICH DER AUSSTELLUNGSERÖFFNUNG
„ULRICH BEHL – DER ZEICHNER“

Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, 14. August 2005

sehr verehrte Freunde der Kunst,
lieber Ulrich Behl,

nur einer kleinen Anzahl von Menschen – gemessen an den Millionen von Touristen und Pilgern, die die italienische Hauptstadt jedes Jahr besuchen – ist es vergönnt, das Gelände der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom zu betreten. Kaum mehr als ein Dutzend Stipendiaten und Ehrengäste gleichzeitig, bildende Künstler, Architekten, Komponisten und Literaten, bewohnen die zehn Ateliers und das Haupthaus in dem über einen Hektar großen Park, der durch Mauern vom Getriebe der Großstadt getrennt ist. Als die von dem Industriellen Eduard Arnhold gestifteten Gebäude 1910 auf dem Parkgelände des ehemaligen Landsitzes des Fürsten Massimo unweit der Porta Pia errichtet wurden, grenzte noch die Campagna an das mit uralten Steineichen und Zypressen, Lorbeer und Pinien bewachsene Terrain, und der Blick schweifte noch frei bis zu den Albaner Bergen.

Als ich Anfang April 1997 in der Villa Massimo eintraf, war Ulrich Behl gerade seit 4 Wochen dort, um sein zweimonatiges Stipendium als Ehrengast der Villa Massimo wahrzunehmen, für das er vom Land Schleswig-Holstein vorgeschlagen worden war. Man kann nicht von jedem Künstler erwarten, dass er mit ungeteilter Begeisterung dorthin kommt, da heute meist ganz andere Reiseziele Anregungen für die zeitgenössische Kunst, Architektur, Literatur und Musik erwarten lassen. Ulrich Behl jedoch, der ohne Erwartungen gekommen war, bewegte sich auch nach Wochen – so empfand ich es damals und so haben wir es auch später besprochen – auf dem von Pinien, Hecken und Kakteenhainen bestandenen und mit antiken Skulpturen, Brunnen und künstlichen Ruinen geschmückten Gelände der Villa Massimo mit dem feierlichen Erstaunen eines Menschen, der einem der großen Augenblicke seines Lebens begegnet. Das mag umso mehr erstaunen, als sein künstlerisches Werk auf den ersten Blick eher kühl und berechnet, bisweilen pedantisch wirken kann. Das Gegenteil, nämlich lyrisch, beobachtend und erfahrend ist es in Wirklichkeit. Und tatsächlich setzte sich Behl, der alle Genüsse Italiens, Wein, gutes Essen, Ausflüge mit den anderen Künstlern nach Viterbo und Orvieto und zu den Sehenswürdigkeiten Roms, gern wahrnahm, täglich mehrere Stunden an den Tisch vor den schon sommerlich geöffneten Fenstern seines Stipendiatenzimmers und zeichnete – „Modulare Ordnungen“.

„Ein Mann zwischen allen Stühlen?“ fragt Helmut Leppien erneut - wie vor 26 Jahren schon einmal - im Katalog zur heutigen Ausstellung. „Seine mit Farbstiften und Bleistift gezeichneten Blätter basieren“, so Leppien, „auf jenen Grundformen, die aus Senkrechte, Waagrechte und Schräge zu konstruieren sind. Also wären sie dem Konstruktivismus zuzurechnen. Aber das Licht ist so sehr das bestimmende und belebende Element, dass die Formen ihre Festigkeit verlieren.“ Draußen vor den Fenstern der Villa Massimo das Licht der Campagna, das Künstler wie Koch und Reinhart seit der Goethe-Zeit und jetzt auch Behl faszinierte, drinnen der Zeichner Behl, der mit fast schon schwebendem Bleistift feinste Verläufe des Lichts mit Graphit auf den Unebenheiten des Büttenpapiers produzierte. Zwischen allen Stühlen? Vielleicht ist auch „das eine tun und das andere gleichzeitig mitdenken“ das grundsätzlich duale Lebensprinzip von Ulrich Behl. Nicht zuletzt besteht sein Gesamtwerk aus zwei großen, einander gegenüberstehenden Werkkomplexen, den Zeichnungen, die im Mittelpunkt der heutigen Ausstellung stehen, und den bespannten Papierobjekten, die jede für sich allein existieren können, gleich wichtig, sich aber dennoch eng aufeinander beziehen.

Behl ist, das konnten seine Studenten an der Pädagogischen Hochschule in Kiel, an der er 1971-79 eine Dozentur für Kunsterziehung inne hatte, ebenso wie an der Volkshochschule in Kiel, an der er seit 1981 als Fachbereichsleiter für Literatur, Kunst und Gestaltung tätig war, von ihm erwarten, ein umfassend gebildeter Mensch. In der Kunsttheorie ebenso wie in der Philosophie zu Hause, kann er es mit jedem gestandenen Kunsthistoriker aufnehmen, denn er hat von 1971 bis 1975 auch Kunstgeschichte an der Universität Kiel studiert. Vermutlich ist es ihm deshalb so geläufig, sein Tun in die Traditionen der Europäischen Kulturgeschichte einzuordnen, seinen Aufenthalt in der Villa Massimo als Teil dieser Tradition zu empfinden. Ich jedenfalls empfand meinen kurzen Besuch dort so, und auch für mich war es einer der bedeutenden Augenblicke in meinem Leben.

Auch bei einem Künstler, der wie Ulrich Behl ein unverwechselbares und eigenständiges Werk geschaffen hat, lassen sich seine Ausbildung und seine künstlerischen Arbeiten doch in die allgemeine kunstgeschichtliche Entwicklung einordnen. Sein erster akademischer Lehrer an der Pädagogischen Hochschule in Alfeld an der Leine - Behl wuchs nach der Vertreibung der Familie aus Pommern in der Nähe von Hannover auf und machte dort 1961 sein Abitur - war in den Jahren von 1961 bis 1964 Kurt Schwerdtfeger, der selbst Kunstgeschichte und Philosophie studiert hatte und Behls Interesse an der Kunsttheorie weckte. Vor allem aber war Schwerdtfeger von 1920 bis 1924 Studierender am Staatlichen Bauhaus in Weimar gewesen. Er ist in die Geschichte des Bauhauses durch die Entwicklung der reflektorischen Farblichtspiele eingegangen, die er 1922 und 1923 als Teil der Bauhausbühne aufführte und die er nach 1945 und auch Anfang der sechziger Jahre in Alfeld seinen Studenten weitervermittelte. Behl hat sie 1979 mit Studenten der Pädagogischen Hochschule in Kiel erneut rekonstruiert und mehrfach an der Kieler Kunsthalle aufgeführt. In einem dunklen Raum wurde mit beweglichen farbigen Signallampen farbiges Licht durch ausgeschnittene Schablonen auf eine Fläche aus durchscheinendem Papier projiziert. Das Publikum erlebte so vielfältigste Farben und Formen in Verdoppelungen, Übergängen, Überschneidungen und Farbmischungen, die von der Beweglichkeit, Kreativität und technischen Übung der Spieler abhängig waren und die gleichzeitig mit zeitgenössischer Musik aufgeführt wurden. So ergab sich für das Publikum ein musisches Gesamterlebnis aus der Koordination von Farbe, Licht und Klang.

Schwerdtfeger selbst sah in den Farblichtspielen die Voraussetzung für die seriell-mechanisch gegliederten zeitgenössischen Lichtobjekte der Gruppe ZERO, der Behl wiederum mit seinen papierbespannten Lichtobjekten nahesteht. 1957 hatten Otto Piene und Heinz Mack die Gruppe ZERO gegründet, der später Günther Uecker beitrat und die bis 1967 bestand. ZERO formulierte den Aufbruch zu postinformellen, seriellen, monochromen Bildern, die ebenso wie Reliefs und Objekte dieser Künstler Instrumente zum Einfangen, Rhythmisieren und Nuancieren des Lichts wurden. Behl beschäftigte sich in diesen Jahren vornehmlich mit seriellen und strukturellen Gestaltungen. Seit 1964 war er im Schuldienst in Harpstedt bei Bremen. Etwa 1965 wurde die Handzeichnung sein künstlerisches Medium. Seit 1967 befasste er sich in der Druckgraphik – vorwiegend in der Lithographie – mit dem Phänomen Licht. In dem Jahr, in dem sich die Gruppe ZERO auflöste, begann er 1967 ein erneutes Studium an der Werkkunstschule Hannover, wiederum bei einem der bedeutendsten deutschen Künstler der Nachkriegszeit, Raimund Girke, der seit Anfang der sechziger Jahre in monochromen Bildern die Farbe Weiß bevorzugte. Girke gilt ebenfalls als ein Maler des Lichts, der in zeilenartigen, aber auch gestisch beeinflussten Schemata zarte weiße und graue Valeurs erzeugt.

Behl achtet und schätzt die Kunst der Gruppe ZERO und auch der ähnlich arbeitenden holländischen Gruppe Nul mit Jan Schoonhoven. Jedoch liegen ihm die mit Lampen, Spiegeln und Prismen erzeugten Lichteffekte bei Piene und Mack ebenso fern wie die starren Strukturen bei Schoonhoven und Uecker. Und auch den strukturell undurchdringlichen weißen Farbräumen bei Girke zollt Behl allenfalls Respekt. Seine Kunst, wie sie sich heute als Gesamtwerk zeigt, kommt nach frühen Ausflügen in die Welt der Materialbilder jedoch von der Landschaft, also von der Naturbeobachtung her. Während seiner zweiten Studienzeit an der Werkkunstschule Hannover 1967-68, in seiner Zeit als Leiter der Volkshochschule in Harpstedt bei Bremen 1968-71 und schließlich nach seiner Übersiedlung nach Kiel 1971 zeichnete er Meeres- und Landschaftsstudien mit den Titeln „Maritimes“, „Maritime Abläufe“, „Bewölkungsauflockerung“, „Kleines Seestück“ oder „Verwehung“, von denen aus er schließlich zur Gestaltung serieller Strukturen und modularer Ordnungen gelangte. Seitdem steht das Licht in seinen Zeichnungen, Lithographien und Objekten im Vordergrund.

Bereits Anfang der siebziger Jahre überschritt Behl in Darstellungen und Titeln seiner Zeichnungen in unterschiedlichen Abstufungen die Grenze zum Ungegenständlichen. In dem 1976 erschienenen Katalog der Galerie Stekhoven in Westensee stehen Zeichnungen verschiedener Abstraktionsgrade direkt nebeneinander: „Lichtbewegung vertikal“ von 1969 konnte noch als Anmutung von Küstenlinien und Meereswellen empfunden werden, während „Kontrovers“ (1971) rein geometrisch angelegt war: Von den Seiten eines Rechtecks reihen sich spitze Dreiecke mit extremen Lichtverläufen an allen Kanten und Flächen gegeneinander. „Große Klinge“ (1972) ließ das Motiv einer Rasierklinge trotz starker Reduzierungen deutlich erkennen, während sich die Zeichnung „Metamorphosen“ (1973) nur noch auf die immer neu variierten und in alle Richtungen schwingenden Randbereiche einer Rasierklinge und ihrer Lichterscheinungen konzentrierte. „Lichtbewegung“ (1975) schien Lichträume um hintereinander geschichtete Kegel, „Lichtfall“ (1975) und „Lichtspalt“ (1976) durchscheinendes Licht hinter scheinbaren, gedachten Schnitten im Papier wiederzugeben. Behl schrieb hierzu selbst: „Der unübersehbaren Fülle von Bildwelten und optischen Sinneseindrücken begegne ich mit selektivem Interesse an Erscheinungsformen von Wirklichkeit“. Er deutete aber bereits den Abschied vom Motiv an: „Ich trete für harte Kontraste, feste Formen, klare Strukturen, eben strenge bildnerische Ordnung ein. Meine Arbeit tendiert seit Jahren zum Seriellen und Konzeptionellen.“ Entsprechend interessieren ihn auch alle Arten von industriell gefertigten seriellen Strukturen wie Gitter, Lamellen, Jalousien, jedoch nicht um diese abbildend darzustellen, sondern um die Verläufe des Lichts an ihnen zu studieren. In einer frühen Lithographie „Lichtfilter“ von 1977 gestaltete er ein regelmäßiges Geflecht über senkrechten Stäben, indem er Materie ausschließlich durch Licht – helle vorspringende Flächen gegenüber dunklen Zwischenräumen mit tonigen, die Biegung des Materials beschreibenden Verläufen zeigte.

Seit 1980 waren seine Zeichnungen ausschließlich geometrisch und immer in variierenden Serien angelegt, deren Titel prozesshaftes Gestalten („Prozess-Ordnung“, „Gefüge“, „Durchdringung“), Varianten aus fest definierten Grundelementen („Modulare Ordnungen“) oder musikalische Kompositionsprinzipien wiedergeben („Doppelakkord“, „Crescendo/Decrescendo“, „Abbreviaturen“). Behl entwickelte ein Konzept serieller und modularer Ordnungen, das wesentlich von Bildstrukturen beeinflusst war, die Richard Paul Lohse in den vierziger und fünfziger Jahren erforscht hatte. Unter grundsätzlichem Ausschluss der Farbe (die bei Lohse die Hauptrolle spielte), übernahm Behl nun die Analyse vertikaler Strukturen als Basis serieller Systeme. Behls wesentliches Motiv wurden die Schnittpunkte von Diagonalen mit Horizontalen und Vertikalen, an denen sich die Brechungen des Lichts in Verläufen vom Weiß des Papiers zur tiefsten Schwärze des vom Bleistift aufgetragenen Graphits oder der Pigmentkonzentration von rotem und blauem Farbstift rhythmisch wiederholen. Er gestaltet die Anwesenheit von Licht (Weiß) oder das Fehlen von Licht (Schwarz) durch einen exakten, konzentrierten und langwierigen Auftrag der Zeichnung in unendlich vielen Strichlagen gegen die Unebenheiten des Büttenpapiers. Stofflichkeit, die er an konkreten Gegenständen sieht und analysiert, macht er mit der Verdichtung oder der Durchsichtigkeit des Graphits auch für den Betrachter sinnlich erfahrbar. Der Zeichenvorgang bewegt sich bei ihm zwischen den Extremen höchster Konzentration und stofflicher Verdichtung bis hin zum Schweben des Stifts über dem Zeichengrund. Diese konzentrierte Arbeit ist für ihn zugleich ein Erkenntnisprozess über das Wesen des Zeichnens.

Als Behl 1977 die Welt des Gegenständlichen, der „Maritimen Abläufe“, der „Lichtfilter“ und gebogenen Geflechte verließ und sich den Lichtverläufen an exakten geometrischen Strukturen zuwandte, hatte er sich damit zugleich in den Bereich der Konkreten Kunst vorgewagt, in der er heute noch seinen Platz behauptet bzw. der er – wie Eugen Gomringer, der frühere Sekretär von Max Bill, in unserem Regensburger Ausstellungskatalog 1997 schrieb – eine Öffnung hin zu neuen Ufern gewiesen hat. Max Bills Definition der Konkreten Kunst, 1944 erstmals formuliert und mehrfach revidiert, liefert uns den Schlüssel zum Verständnis für Behls Kunst: „Konkrete Kunst macht den ‚abstrakten Gedanken an sich’ mit rein künstlerischen Mitteln sichtbar und schafft zu diesem Zweck neue Gegenstände. Das Ziel der konkreten Kunst ist es, Gegenstände für den geistigen Gebrauch zu entwickeln.“

Der „abstrakte Gedanke an sich“ ist für Behl die Beschreibung des Lichts -- ohne die Schilderung einer Situation aus der Welt der realen Gegenstände. Mit seinen Zeichnungen und wenig später auch mit seinen bespannten Papierobjekten schuf er „Gegenstände für den geistigen Gebrauch“, die diesen Gedanken in konkreter Form sichtbar machen. Entsprechend schrieb Behl 1977: „Mein Streben ist auf Erkenntnis und Wahrheit gerichtet. Der unübersehbaren Fülle von Bildwelten und optischen Sinneseindrücken begegne ich mit selektivem Interesse an Erscheinungsformen von Wirklichkeit. Nicht die Dinge selbst interessieren, sondern das, was sich an ihnen zeigt.“ Lichtverläufe sind ein von ihm neu gefundenes konkretes Gestaltungselement zusätzlich zu jenen, die Max Bill für die Konkrete Kunst festlegte: die Farben, das Licht, die Bewegung, der Volumen, der Raum. Der von Behl neu gefundene ‚abstrakte Gedanke’ ist die An- und Abwesenheit von Licht, die an jeder Geraden und an jeder Fläche gezeigt werden kann und für die es nicht der Illusion aus Licht und Schatten bedarf.

Demselben Gedankengang unterliegt auch die große Werkgruppe der bespannten Papierobjekte, die Behl ebenfalls seit 1980 entwickelte. Mithilfe leichter Holzgerüste, die er nach dem Vorbild des Flugzeugmodellbaus mit Papier bespannt, schafft er modular geordnete Systeme aus geometrischen Räumen, Schlitzen und Tunneln unterschiedlicher Tiefe, flach oder prismatisch vorspringend, auf einer Ebene oder hintereinander gestaffelt, die auf weiße Holztafeln montiert oder als Pyramide, asymmetrische Spindel oder an Brancusi erinnernde Säule freistehend und durchscheinend sind und in denen das Licht je nach der inneren Struktur in unterschiedlicher Stärke gefangen wird. Auch sie sind nach dem Prinzip der Konkreten Kunst „Objekte für den geistigen Gebrauch“, Studien- oder „Schauobjekte“, wie Behl sie durchgehend nennt, an denen die Verläufe des Lichts in den Tiefenräumen, seine An- und Abwesenheit in unterschiedlichen Abstufungen studiert werden kann. Diese Objekte sind eindeutig konkret, denn ihre Räume und papiernen Wände existieren tatsächlich. Das Licht ist in ihnen bloß anwesend, es wird sichtbar gemacht aber in keiner Weise manipuliert.

Sowohl bei den Zeichnungen als auch bei den Objekten liegen Behls Grundlagen in der Anschauung, sie sind von einfachen Materialien und kreativen Vorgängen geprägt, arbeiten mit der natürlichen Erscheinungsform des Tageslichts und sind – wenn auch seriell und strukturiert – eher lyrisch und musikalisch inspiriert: Variationen, Modulationen und Etüden gleich entwickelt Behl Bildstrukturen und Objekte zu immer neuen Modellen des selben Anschauungssystems, die jede für sich hoch ästhetische Werke der bildenden Kunst sind. Auf der Grundlage einer präzisen Analytik schafft er eine in sich perfekte Ästhetik, die jedoch aufgrund der Varianten des Tageslichts und der natürlichen Bewegtheit des Materials niemals erstarrt und erkaltet.

Anfang der neunziger Jahre begann der Künstler, sich mit dem Zufall zu beschäftigen. Es schien, als wollte er sich aus der Gefahr einer Erstarrung, aus der Falle künstlerisch immer neu zu schaffender Variationen befreien. Lotto, die zufällig gezogene Auswahl von 6 aus 49 Zahlen, wählte er als Möglichkeit immer neuer geometrischer Kompositionen, indem er die Position der Zahlen auf einem Raster durch Geraden und Senkrechte und auf einem zweiten Raster durch Diagonalen verband, und die so entstandenen Flächen mit der von ihm bekannten Graphitzeichentechnik füllte und sie in Serien paarweise gegenüberstellte. Weitere Varianten entstanden durch Kompositionen, in denen er an einer scharf begrenzten Umrisslinie einen gegenüber ins Nichts auslaufenden Lichtverlauf anlegte. Die Lotto-Zeichnungen bilden in Behls künstlerischer Entwicklung einen Extremwert. Denn alle Komponenten – die durch Zufall entstandenen Flächen, der variationslose Zeichenvorgang, die Anlage von Lichtverläufen an zufällig gefundenen Linien – könnten nicht gegenstands- und emotionsloser sein als nach dem hier gefundenen Prinzip. Lotto war der vorläufige Endpunkt von Behls analytischer und künstlerischer Entwicklung vom Interesse an der Lichterscheinung des Gegenstands hin zu seiner vollkommen gegenstandslosen und wertfreien Verstofflichung: Sowohl das Weiß des Papiers als auch die reine abgestufte Graphitfläche wie auch der scharf begrenzte Verlauf sind in seinen Zeichnungen als Manifestation des Lichts zu verstehen.

Vom Zufall bestimmt ist auch eine von Behls zuletzt entstandenen Werkgruppen. Aufgrund eines Wettbewerbs „Sport trifft Kunst“ entwickelte er ein Einmann-Tischtennisspiel mit Bällen, die er mit Graphit einfärbte und gegen das auf eine harte Oberfläche aufgelegte Zeichenpapier spielte. Je nach Härte des Aufschlags werden die silbrigschwarzen Bälle beim Aufprall mehr oder weniger stark eingedrückt und hinterlassen einen unterschiedlich ausgedehnten und prägnanten Abdruck. Während des Spielverlaufs entstehen auf dem Papier zufällig strukturierte „Wolken“ solcher Abdrücke, die aufgrund ihrer natürlichen Entstehung wiederum wertfrei und emotionslos sind. Der konzeptuelle Vorgang und das Ergebnis stehen der gestischen Malerei und dem Action Painting Jackson Pollocks nahe. Eine ästhetische Qualität findet man jedoch eher bei dem neu erfundenen Zeichenmittel, dem wieder mit unendlicher Geduld mit dem Graphitstift überzeichneten Tischtennisball, einer jetzt silbrig glänzenden Kugel und damit einem künstlerisch geschaffenen konkreten Gegenstand, an dem man in idealer Weise Lichtstudien betreiben kann.

„Nicht die Dinge selbst interessieren, sondern das, was sich an ihnen zeigt“, resümiert Uwe Haupenthal im Katalog zur heutigen Ausstellung und weist darauf hin, dass Behl auch leidenschaftlicher Sammler plastischer Objekte ist. Waschbretter oder Küchenreiben, gleichmäßig gelochte Schöpfkellen, Luftfilter von Automotoren, ein sternförmig besetzter Gartenkultivator, um nur einige zu nennen, jedwede kleine und große Formreihung in Technik und Natur erweckt Behls formales Interesse. Dabei treten Herkunft, materielle Beschaffenheit und die damit einhergehenden zweckhaften Bindungen, so Haupenthal, in den Hintergrund, stattdessen interessieren ihn die modularen oder seriellen Strukturen.

Zweimal hat sich Behl selbst an die Fertigung großer seriell geordneter Metallobjekte gewagt. 1987 entwarf er für den „Kleinen Kiel“ schwimmende Polyeder aus Aluminium in 4, 6, 11 und zweimal drei Exemplaren in zugvogelähnlicher Formation, ein Objekt, das Sie sicher alle kennen, da es jeden Sommer immer neu installiert wird. 1995 ordnete er in der Lagune von Venedig 32 fünf Meter aus dem Wasser ragende schlanke Aluminiumzylinder auf einem regelmäßigen Dreieckraster an, die seinen Beitrag zur Sonderschau ARTELAGUNA der Biennale von Venedig bildeten. Beide Arbeiten waren bzw. sind Objekte der Land Art, in denen Behl wiederum strukturelle und konkrete Gestaltungsprinzipen dazu verwendete, auf den durch Wind und Meer bewegten Metallkörpern die natürlichen Erscheinungen des Lichts sichtbar werden zu lassen und die bewiesen, dass er Kunst auch in größtem Maßstab und unter technisch schwierigsten Bedingungen bewältigen kann.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.