Axel Feuß:
Eröffnungsrede zur Ausstellung
"Maxim Brandt - Vision des Kuckucks"
Kunst&Co, Verein für Gegenwartskunst, Flensburg,
24. Februar 2017
Lieber Maxim Brandt,
verehrte Freunde der Kunst,
der Titel eines Gemäldes von Maxim
Brandt, „Vision des Kuckucks“, das allerdings heute nicht zu sehen ist, ist
zugleich Titel der Ausstellung geworden. Alles, was wir heute sehen, sind also Visionen
des Kuckucks. Aber, zum Kuckuck!, wo ist denn nun dieser Vogel? Auf den Gemälden,
die Hütten im Stadium des Entstehens und Vergehens, während des Untergangs bei
Überschwemmungen, in Wäldern oder tropischen Gärten zeigen, ist er jedenfalls
nicht zu sehen. Was aber wiederum klar ist, denn wir blicken ja mit den Augen
des Kuckucks auf die Szenerie. Im dunklen Wald brennen Lagerfeuer jener
Menschen, die aus der zerstörten Hütte geflohen sind, leuchten Neonreklamen.
Der Mond, die untergehende oder aufgehende Sonne oder giftig gelber Himmel
beleuchten das mysteriöse Geschehen.
Vor der Szene schweben hinter Lochfenstern beleuchtete sphärische blau-grüne Gebilde, mal eine gelbe Linse, die wie das Tochterschiff des gleichfarbigen Zirkuszelts im Hintergrund wirkt. An dunklen Baumstämmen kleben violett gepunktete Scheiben. Für mich sind dies Objekte aus einer utopischen fremden Welt, für den Maler vielleicht nur Farbakzente, die der Bildkomposition Angelpunkt, Perspektive, farbige Akzente oder Kontraste geben; denn Malerei sind Maxim Brandts Gemälde ja in erster Hinsicht. Ähnlich wie der Bild- und Ausstellungstitel, wir erinnern uns: „Vision des Kuckucks“, heben diese Objekte das Bildgeschehen auf eine weitere, visionäre Ebene. Vom Dach einer gerade in den Fluten versinkenden Hütte, „The House of the Rising Sun“, rutschen grüne und weiß gepunktete Scheiben und gelbe Pfannkuchen, die den berühmten zerfließenden Uhren von Salvador Dalí nicht unähnlich sind und die im Kontrast zu den aufgepeitschten Wellen eine zweite zeitliche Dimension eröffnet.
Maxim Brandt: The House of the Rising Sun, 2016. Öl auf Leinwand, 170 x 145 cm
Maxim Brandt kreiert Bildtitel (eigentlich wollte ich sagen: spielt mit Bildtiteln, denn etwas Spielerisches und Humorvolles haben seine Titel auch), Brandt erfindet also Bildtitel, die eine weitere Bedeutungsebene eröffnen, den Betrachter vielleicht in die Irre führen, ihn zum Nachdenken oder sogar zum Recherchieren veranlassen oder an sein Unterbewusstsein appellieren. Ich, Wissenschaftler, habe mich fürs Recherchieren entschieden. „Der Lockruf“ – auf dem Bild zu sehen sind mehrere angeschnittene Blutwürste, die über einer Schneelandschaft schweben – veranlasst mich sofort „Der Lockruf des Goldes“ zu ergänzen, der Titel übrigens eines 1910 erschienenen Abenteuerromans des amerikanischen Schriftstellers Jack London. Für Genießer, mich allerdings ausgenommen, sind diese Blutwürste vielleicht pures Gold.
Maxim Brandt: Der Lockruf, 2016. Öl auf Leinwand, 80 x 60 cm
„The House of the Rising Sun“, von
den aufgepeitschten Wellen eines über die Ufer getretenen Flusses davongetragen,
während im Hintergrund tatsächlich die Sonne über dem Zauberwald aufgeht, zitiert
einen amerikanischen Folksong, den die Band „The Animals“ 1964 an die Spitze
der Hitparaden katapultierte. Zu sehen ist also möglicherweise ein Haus in New
Orleans für gefallene Mädchen, das hier in den Fluten untergeht, wenn denn die
Geschichte so einfach wäre. Denn möglicherweise hat Brandt beim Malen des
Bildes auch nur diesen Song gehört.
„Holy Wood“, heiliger Wald, und
kaum einer würde nicht sofort an Hollywood denken und daran, dass er oder sie
nicht schon einmal im englischen Wörterbuch nachgeschlagen haben um
herauszufinden, dass Hollywood übersetzt natürlich nicht heiliger, sondern
„Stechpalmenwald“ heißt. Vor diesem „heiligen Wald“ also steht ein Mann im
Anzug bis zu den Knien im Wasser und blickt auf mysteriöse Lichtspiele im
dunklen Wald – der Beginn eines Hollywood-Dramas vielleicht?
Maxim Brandt: Holy Wood, 2015. Öl auf Leinwand, 75 x 60 cm
„1884“, der Titel zu einem
gerahmten Tableau mit Pilzen, das über einem Kornfeld am Waldrand schwebt –
hier musste ich passen. Immerhin hat mich der Künstler dazu gebracht, mich
ausführlich über das Jahr 1884 zu informieren, was ein immenser
Erkenntnisfortschritt war. 1884 hat Mark Twain den Jugendroman „Huckleberry
Finn“ geschrieben und in Afrika wurde Lüderitzland von kaiserlich-deutschen
Truppen als künftige Kolonie Deutsch-Südwestafrika „heim ins Reich“ geführt.
Vielleicht datierte eine historische Schautafel über Pilze, die Maxim Brandt
inspiriert hat, aus dem Jahr 1884. Konkret hierzu befragt, bestätigt der
Künstler diese letzte Annahme: Ein Buch, „Die vergleichende Morphologie und
Biologie der Pilze“, erschienen in Leipzig im Jahr 1884, hat den Künstler, der
sich schon lange mit dem Thema beschäftigt hat, zum Bildtitel inspiriert.
Wirklich wichtig ist das nicht: Titel und Gemälde bilden eine Art Collage, die
verschiedene Deutungen möglich macht.
Maxim Brandt: 1884, 2016. Öl auf Leinwand, 90 x 90 cm
Wer den Maler jedoch zu einzelnen
Bildtiteln, Szenen und Symbolen befragt, wird konkrete biographische Hinweise
bekommen. Ob sein System aus Doppeldeutungen, bekannten Zitaten, historischen
Anklängen und biographischen Hinweisen Fehlinterpretationen vermeiden kann, ist
jedoch fraglich, vor allem wenn sich zwei oder drei Generationen später
Kunsthistoriker an die Arbeit machen sollten. Dies ist schon bei berühmteren
Werken gründlich schief gegangen: Ob es sich beispielsweise bei „La Gioconda“,
die wir auch unter dem Namen „Mona Lisa“ kennen, um eine Kaufmannsgattin, eine
Fürstentochter, um Leonardos Geliebte, um eine Idealfigur oder vielleicht sogar
um einen jungen Mann gehandelt hat (alle diese Deutungen hat es gegeben),
wissen wir auch nach Jahrhunderten der Forschung nicht. Allerdings muss Malerei
nicht immer eindeutig sein, sondern darf die Phantasie des Betrachters durchaus
beflügeln. Hier hat der Kuckuck Visionen, vielleicht, in welcher der vielen
Hütten er sein Nest bauen soll. Möglicherweise sucht der Maler selbst nach
einer neuen Heimat. Beide machen den Betrachter zu ihrem Komplizen, der
durchaus seine eigenen visionären Interpretationen haben darf. Was mich von
Anfang an fasziniert hat, ist, dass es hier einen jungen Künstler gibt, der
nicht nur hervorragend malen kann, sondern darüber hinaus auch über Humor,
Allgemeinbildung und Sprachvermögen verfügt und es mithilfe dieser Mittel
vermag, unmittelbar eine Konversation mit den Betrachtern seiner Bilder zu
eröffnen.
Nachdem seit 2014 mehrere Künstler
von der Nürnberger Kunstakademie bei Kunst & Co zu Gast waren (wir erinnern
uns unter anderem an den großartigen Stephan Haimerl), zeigt jetzt mit Maxim
Brandt ein Landeskind seine Werke. Brandt studierte nämlich von 2008 bis 2015
an der Muthesius-Kunsthochschule in Kiel bei Jürgen Parthenheimer und Antje
Majewski. Er ist für mein Empfinden einer der profiliertesten Absolventen
dieser Hochschule aus den letzten Jahren. 2014 erhielt er ein Arbeitsstipendium
der Kulturstiftung des Landes Schleswig-Holstein, war mehrfach für den
Muthesius-Preis sowie für den Gottfried-Brockmann-Preis nominiert und seine
Bilder waren daher auch auf den entsprechenden Ausstellungen zu sehen. 2014 arbeitete
er als Artist in Residence am College of Fine Arts an der Universität
in Guangzhu in China (der Titel eines seiner Gemälde, „Made in China“, weist
darauf hin). Seit 2010 hat er an zahlreichen Ausstellungen in Schleswig-Holstein,
Hamburg und Berlin, in Schweden, Rumänien, Belgien und China teilgenommen.
Einzelausstellungen hatte er in Schleswig-Holstein und Dänemark. Inzwischen
lebt und arbeitet er in Berlin, wo die Kunst- und Galerienszene für einen jungen
arrivierten Künstler natürlich weitaus interessanter ist als bei uns in der
Provinz. Umso mehr freue ich mich, dass er die Einladung nach Flensburg
angenommen hat.
Geboren ist Maxim Brandt 1986 in
Kertsch in der Ukraine, einer Hafenstadt im Osten der Halbinsel Krim. Ohne Künstler
aus Osteuropa wäre die Entwicklung der deutschen Kunst undenkbar, und das gilt
für die Literatur und die Musik ebenso: Modest Mussorgskis „Bilder einer
Ausstellung“ beispielsweise sind unbestritten ein Lieblingsstück der Deutschen.
Marc Chagall, Kasimir Malewitsch und El Lissitzki arbeiteten, lebten oder
studierten in Deutschland. Vor allem das Berlin der Zehner- und Zwanzigerjahre
war eine attraktive Metropole für Künstler aus Russland, der Ukraine und Polen
und ist es heute wieder. Aber auch in München und Bayern kann die Entwicklung der
abstrakten und der expressionistischen Kunst ohne Wassily Kandinsky, Alexej
Jawlensky, Marianne Werefkin und viele andere nicht erzählt werden. Ein
Namensvetter unseres heutigen Künstlers, der Pole Józef Brandt, wurde 1878
Professor an der Münchner Kunstakademie und war Mittelpunkt der viele Hundert
Künstler umfassenden Münchner Malerschule. Er ist heute nur deshalb unbekannt,
weil Gemälde von Tataren- und Kosakenkämpfen aus der Mode gekommen sind.
Das alles wären historische
Marginalien, wenn nicht alle diese Maler von Józef Brandt über Kandinsky und
Chagall bis zu Maxim Brandt die Traditionen und Geschichten ihrer Heimat
mitgebracht und in die deutsche Kunst eingeführt hätten. Maxim Brandt, dessen
Vorfahren und Eltern aus dem Baltikum, aus Russland und der Ukraine stammen,
kam als Jugendlicher nach Deutschland. Er beruft sich auf Einflüsse russischer
Schriftsteller der Zwanziger- und Dreißigerjahre sowie auf Zeichentrickfilme
und Kinderbuchillustrationen der letzten Jahrzehnte der Sowjetunion. Motive aus
russischen Märchen, darauf hat der Kieler Kunsthistoriker und Publizist Arne
Rautenberg hingewiesen, finden sich überall auf Maxim Brandts Bildern. Wir hingegen sehen den „deutschen Wald“,
in dem die Germanen die römischen Legionen in den Wahnsinn und ins Verderben
führten und der seit der Romantik zum Sehnsuchtsort der Deutschen wurde. Auf
Caspar David Friedrichs Gemälde „Waldinneres“ beispielsweise, zu sehen in der
Alten Nationalgalerie in Berlin, entfachen Menschen im Vordergrund ein
Lagerfeuer, während hinter dem Zauberwald der Mond aufgeht.
Maxim Brandt: Ferien, 2017. Öl auf Leinwand, 120 x 120 cm
Und wir sehen bei Maxim Brandt viel
echtes Holz, Symbol für deutsche Qualität und Wertarbeit, das bei näherer
Betrachtung aber ziemlich roh zusammengezimmert ist, in sich zusammenbricht,
während noch der Schornstein raucht oder einfach nur aufgemalt ist. Das soll
erstmal ein Maler schaffen: Holz so zu malen, dass es wie aufgemalt wirkt. Das ist Oberfläche und schöner Schein, wie er
auch in der Dönerbude um die Ecke zu sehen ist. Aber auch in russischen und
ukrainischen Märchen ist der Wald allgegenwärtig: „Eines
Tages, mitten in einem harten, kalten Winter, beschloss die Stiefmutter, dass
das arme Mädchen in den tiefen Wald gebracht und sich selbst überlassen werden
sollte.“ (Das Märchen von Väterchen Frost) „Es waren einmal ein Großvater und
eine Großmutter, mit denen lebte ihre kleine Enkeltochter Mascha. Eines Tages
wollte Mascha in den Wald gehen, um Pilze zu sammeln.“ (Das Märchen von Mascha
und dem Bären) Und auch die berühmteste Gestalt der slawischen Mythologie, die
Hexe Baba Jaga, lebt in einem dunklen Wald, wo ihre Hütte auf Hühnerfüßen steht
(Sie kennen das aus Mussorgskys „Bildern einer Ausstellung“) – auf Hühnerfüßen
deshalb, damit sich die Hütte mit ihrem Eingang dem Wanderer zuwenden kann,
egal aus welcher Richtung er kommt, und den die Hexe dann sehr viel leichter
fressen kann. Auch für Maxim Brandt, so verrät er uns, bekommen alle diese
gemalten Hütten immer mehr wesenhaften Charakter. Ein sowjetischer Märchenfilm
übrigens, „Abenteuer im Zauberwald“ aus dem Jahr 1964, vereinigte viele dieser
Motive.
Maxim Brandt: Tropicus, 2015. Öl auf Leinwand, 120 x 120 cm
Maxim Brandt: One of the Few, 2015. Öl auf Leinwand, 120 x 120 cm
Wir sehen bei Maxim Brandt aber
auch moderne Sehnsuchtsorte: unter dem Titel „Tropicus“ eine intakte Hütte mit einem idyllischen
Kakteengarten vor einem tropischen Palmenwald; an ähnlichem Ort eine
futuristisch gestaltete und bemalte Hütte mit der violetten Neonreklame
„Limpopo“, die für jene nördliche Provinz in der Republik Südafrika steht, in
der der berühmte Krüger-Nationalpark liegt, und (unter dem Titel „Vorgestern“) eine
mit Palmen, Phantasiegewächsen und Riesenpilzen üppig bewachsene Tropeninsel,
um die – vermutlich Deutsche – begonnen haben, einen Holzzaun zu errichten.
Maxim Brandts Vision vom „Urlaub“ (so der Bildtitel) im romantischen deutschen
Wald, hinter dem zur Nachtstunde der Mond hell aufleuchtet, wird durch eine
grünliche Wasserleiche konterkariert, die davor mit ausgebreiteten Armen auf
der Oberfläche eines Teichs schwimmt, über dem bunte Lichter tanzen. Und auch
wenn der Maler uns versichert, dieser schwimmende Mensch würde dort tatsächlich
nur Urlaub machen und es dann auch so in der Zeitung steht, lasse ich mir meine
Phantasie und die damit verbundene feine Ironie des Bildtitels nicht nehmen.
Maxim Brandt: Vorgestern, 2015. Öl auf Leinwand, 90 x 120 cm
Maxim Brandt: Urlaub, 2015. Öl auf Leinwand, 65 x 50 cm
Wer nun meint, meine Damen und
Herren, Maxim Brandts Gemälde würden vornehmlich aus kulturellen – oder besser
interkulturellen – Anspielungen bestehen und Geschichten erzählen, die in dem
einen oder anderen Wald spielen, der sieht sich alsbald getäuscht. Die
weitgehende Kohärenz der Flensburger Ausstellung liegt vor allem in der Auswahl
begründet, die einen Teil der neuesten Bilder zeigt. Wer auf die Werkübersicht auf
Maxim Brandts Webseite sieht, findet eine üppige Bildwelt, in der Matrjoschkas
auf spiegelnden Oberflächen schwimmen, Maskenmenschen um einen Tierschädel beim
Wein sitzen, Alltagsgegenstände, Tiere, Spielgeräte, mysteriöse Apparate und
abstrakte Formen in Innenräumen Bezug zueinander nehmen.
Maxim Brandt: Schamane (Politics of Visions), 2016. Öl auf Leinwand, 90 x 120 cm
Brandt kombiniert in nahezu fotorealistischer
Malerei Bildelemente, die in der Realität nicht zueinander gehören. Die Neonreklame
„Limpopo“ hat vermutlich nie dort im Tropenwald gehangen, die vermeintliche Wasserleiche,
der Herr im Anzug, ein „Schamane - Die Politik der Visionen“ sind niemals im
deutschen, russischen oder ukrainischen Wald geschwommen, gestanden oder spazieren
gegangen und zwar ebenso wenig wie die beiden Hasen, die über die
Wasseroberfläche eines Teichs hoppeln und die Brandt während seines Aufenthalts
in China eingefallen sind. Die Geschichten erzählt nicht der Maler, sondern sie
entstehen im Kopf des Betrachters, der auf seine Erfahrungen, Kenntnisse oder
im Unterbewusstsein gespeicherten Bilder zurückgreift. Dazu gehören auch
Bildzitate aus einhundert Jahren Kunstgeschichte wie Caspar David Friedrichs
„Waldinneres“ oder die in Picasso-Manier gemalten Augen des Schamanen, der
seine politischen Visionen offenbar aus ganz verschiedenen Blick-Richtungen
gewinnt. Ihnen, meine Damen und Herren, werden vermutlich ganz andere
Geschichten, Interpretationen und Visionen einfallen als mir.
Maxim Brandt: Made in China, 2014. Öl auf Leinwand, 190 x 100 cm
Maxim Brandt transformiert
realistische Bildobjekte, die er aus Alltagszusammenhängen herauslöst und neu
installiert – ein Kompositionsprinzip, das aus dem Surrealismus geläufig ist. Tatsächlich
erinnern einige seiner Bilder etwa an René Magritte: das Tableau mit den fotorealistisch
gemalten Pilzen an Magrittes „Verrat der Bilder oder Ceci n’est pas une pipe“
(Dies ist keine Pfeife) oder an dessen Gemälde „Der Schlüssel zum Träumen“ mit
einem Tableau aus vier Gegenständen, die mit falschen Begriffen beschrieben
sind; Brandts Ausblick in die Landschaft durch eine hölzerne Wand, der ebenso
gut ein gemaltes Rundbild auf dieser
Wand sein kann, an Magrittes zerbrochenes Fenster, auf dessen Glasscherben
Fragmente der Landschaft erhalten geblieben sind; die bei Brandt durchs Bild
laufenden Hasen und Hähne an die springenden Löwen und Tiger bei Dalí; Brandts
Tropeninsel an Zauberwälder von Max Ernst, der reale Strukturen des Holzes jedoch
nicht malte (wie Brandt) sondern durch Frottage (also durch Abreibungen von
originalem Holz mit Graphit) in seine Bilder übertrug.
Maxim Brandt: Holy Problem, 2015/2017. Öl auf Leinwand, 60 x 80 cm
Die Surrealisten folgten dem 1924
von André Breton formulierten „Ersten surrealistischen Manifest“, das ihr
kreatives Prinzip (also Bildobjekte aus der Realität herauszulösen und zu
Traumgebilden neu zusammenzufügen) als psychischen Automatismus beschreibt, der
die reine Funktion des Denkens widerspiegelt und zwar unter Abwesenheit der
Vernunft, ästhetischer oder moralischer Grundsätze, ausgeliefert der Allmacht
des Traums und dem unbefangenen Spiel der Gedanken. Maxim Brandt beruft sich
auf eine oder besser zwei Gruppen aus der Russischen Avantgarde der
Zwanzigerjahre, die Tschinari und die
Objerju, denen unter anderem der
Schriftsteller Daniil Kharms und der existenzialistische Philosoph Leonid
Lipawski angehörten.
Beide beschäftigten sich mit Sprache als Ursprung der Welt und der
Benennung von Gegenständen als Ursache für deren Existenz. Ihre Werke bestehen
aus Aneinanderreihungen von Begriffen, die inhaltlich, grammatisch oder
lautmalerisch aufeinander Bezug zu nehmen scheinen, deren Ursprung, Kombination
oder Neuschöpfung jedoch aus dem Unterbewusstsein, der Welt der Gefühle und der
intellektuellen Erfahrungen an die Oberfläche drängt. „Hier ist die Welt, die keinen Namen hat. Ich erschuf sie geistesabwesend, ein unerwartetes Gelingen. Sie verdankt mir ihre Existenz. Aber ich kann nicht ihr Ziel und ihren Sinn erfassen,“ zitiert Brandt in einem Statement über seine Kunst den Schriftsteller Leonid Lipawski. Jedenfalls ist hier, im unterbewussten Ursprung der bildlichen Gegenstände, die enge Verbindung zum Surrealismus zu finden. Brandts Bilder bestehen wie die poetischen Schöpfungen der russischen Existenzialisten oder die Traumbilder der Surrealisten aus zufällig aufeinandertreffenden Objekten, die in keinem wirklichen Zusammenhang stehen, die der Betrachter jedoch zu eigenen Geschichten verbinden kann. In der Sprachwissenschaft stünden diese Werkschöpfungen irgendwo zwischen dadaistischen Lautgedichten und absurder Literatur. In der bildenden Kunst sind sie der Collage oder Montagen nahe, wie sie John Heartfield, Kurt Schwitters oder Max Ernst im Spannungsfeld zwischen Dada und Surrealismus geschaffen haben.
Maxim Brandt: Die Notwendigkeit des Unnötigen, 2013. Öl auf Leiwand, 145 x 145 cm
Auch in ihrem Herstellungsprozess stehen Maxim Brandts Gemälde den Collagen und Montagen der Dadaisten und der Surrealisten nahe. Grundmaterial für seine bildlichen Visionen sind fotografische Einzelbilder, die er am Computer zu Kompositionen montiert und die er dann in Malerei überträgt. An seinem Gemälde „Die Notwendigkeit des Unnötigen“, auf dem der Vorderteil eines Hahns links ins Bild hinein und das Hinterteil desselben Vogels am rechten Bildrand wieder hinausspaziert, kann man den technischen Vorgang der Bildmontage am besten beobachten. Bei der Übertragung in die Malerei verändert der Künstler jedoch immer wieder Farben oder Lichtverhältnisse, fügt neue Requisiten hinzu oder reduziert die Komposition. Computer oder nicht, letztlich unterscheidet sich dieser Vorgang auch nicht wesentlich von dem früherer Jahrhunderte, als Maler ihre Gemälde aus Einzelstudien nach der Natur, aus gerasterten Vergrößerungen oder Verkleinerungen, nach Fotografien, einzelnen Fotostudien oder mithilfe von Lichtprojektionen auf der Leinwand zu neuen, immer originären Kompositionen zusammenfügten. Die Originalität des Gemäldes liegt im Ergebnis der reinen Malerei.
Vielleicht erleben wir hier,
verehrte Freunde der Kunst, die Entstehung eines Jahrhundertwerks. Der Anfang
jedenfalls ist gemacht.
Alle Abbildungen: Copyright Maxim Brandt