December 09, 2009

Roland Schefferski (2)

Axel Feuß:
GESCHEHNISSE, DIE UNBENANNT BLEIBEN
Ein Environment von Roland Schefferski

ursprünglich veröffentlich als:
Nameless Events – An Environment of Roland Schefferski, in: Mare Articum. The Baltic Art Magazine, Heft 1, Szczecin/Polen 2001, S. 50-53

Die Einzelobjekte in der Rauminstallation Geschehnisse, die unbenannt bleiben (2000), die Roland Schefferski anlässlich der Preisverleihung des Förderpreises zum Lovis-Corinth Preis 2000 für den Ausstellungssaal des Museums Ostdeutsche Galerie in Regensburg entwickelte, könnten als Träger von Erinnerungen gedeutet werden, jahrzehntealte Tische und Schränke, Fotos auf zerbrochenen Fayencescherben und Zeitungsausgaben, die der Künstler in neue Zusammenhänge stellt. Doch nur bei journalistischer Betrachtungsweise (1) wird aus Schefferski ein Spurensucher oder ein Mahner aus der Erinnerung. Denn für die Einordnung Schefferskis als Spurensucher und Reliktesammler fehlen die Faszination an den Strukturen des Zerfalls, für den typischen Archivar die Systematik als „Gralshüter des Wissens“ oder „Navigator im Informationsfluß“ (2). Welches aber ist Schefferskis übergeordnetes Gedankengebäude und wie funktioniert es?

Geschehnisse, die ungenannt bleiben
Museum Ostdeutsche Galerie, Regensburg, 2000

Glaube, Hoffnung, Liebe, 1998

Der Künstler arbeitet nicht mit Zufallsfunden sondern mit Objekten, die Paradigmen bürgerlicher Lebenswirklichkeit sind. Aus dem Bereich bürgerlichen Wohnens stammen ein Büfett, Sammlungsvitrinen, Glasstürze und Schatullen, Waschtische, Küchenschränke, Handtuchhalter und Paradehandtuch. Bürgerlich sind die schwarzsamtenen Damenkostüme mit zugehörigen Kleiderbügeln und Schuhen. Zylinder und Zeitung, Fotos, Bilderrahmen und Medaillons, Nähzeug und Seidenstoff. In dem kubischen weißen, nahezu neutralen Ausstellungssaal hat Schefferski mit Vorhängen in den Nationalfarben neue Räume gebildet, „polnische“ auf der einen, „deutsche“ auf der anderen Seite. So kommen der Geldschein, die Fotos und das Paradehandtuch auf der polnischen Seite tatsächlich aus Polen. Die Damenkostüme auf der deutschen Seite stammen aus dem Berlin der dreißiger Jahre. Eine Zeitungsausgabe des „Sunday Dispatch“ berichtet aus den Tagen nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht ins Sudetenland im Oktober 1938, Zeitungen aus den fünfziger Jahren über den dritten Parteitag der DDR und über Reaktionen der Alliierten aus Westberliner Sicht. Ein Glassturz konserviert unter dem Titel Zehngebote für alle Zeiten zehn Tücher mit dem Porträt von Karl Marx, die Glasschatulle von einem Toilette-Tisch als Schneewittchen-Sarg eine Fahne der DDR.

Auf beiden Seiten gibt es weitere politische Anspielungen. Aus einem Einhundert-Zloty-Schein ist das Wort Proletaryat herausgeschnitten und findet sich als medaillongerahmtes Souvenir auf der deutschen Seite wieder. Den gestickten Wörtern Wiara, Nadzieja, Milosc ( Glaube, Hoffnung, Liebe ) auf dem polnischen Handtuch stellt der Künstler die alten "kapitalistischen" Werte Money, Eternity, Sex als die der neuen polnischen Gesellschaft gegenüber. Von den „rein gewaschenen“ polnischen Nationalfarben scheint noch Wasser in die darunter aufgestellten Schüsseln zu tropfen. Ironie der Geschichte auch auf der deutschen Seite: Die Damenkostüme aus den dreißiger Jahren unter dem Titel Kommen und Gehen hängen auf Bügeln aus Danzig und Gleiwitz, Städten, die heute in Polen liegen. Auch die Ausgelöschten Bilder u.a. der Stadt Danzig aus den Jahren vor ihrer Zerstörung sind auf der deutschen Seite zu finden. Durch die Positionierung von Objekten aus verschiedenen Zeitstellungen schafft Schefferski Orte, an denen die enge historische Verflechtung der beiden Nationen zum Ausdruck kommt und der Betrachter die gemeinsame deutsch-polnische Geschichte neu erlebt.

Besonderer Auslöser für Erinnerung und Assoziationen sind jedoch Objekte, die keinen direkten Bezug zu politischen oder historischen Ereignissen haben und die jenes bürgerliche Mobiliar aus Alltagsgegenständen darstellen, das auf beiden Seiten der Installation zu finden ist. Es deutet darauf hin, dass sich die bürgerliche Gesellschaft beider Nationen in den vergangenen einhundert Jahren trotz verschiedener politischer Systeme kaum voneinander unterschieden hat. Zwischen Waschtisch und Büfett lebte und lebt auch heute in Deutschland wie in Polen eine mitteleuropäisch geprägte homogene bürgerliche Schicht, die für die jeweiligen politischen Zustände verantwortlich ist, aber nie gelernt hat, diese Verantwortung auch wirklich zu übernehmen. Tatsächlich wird die Lebenswirklichkeit wesentlicher von der Bewältigung des Alltags, also vom Wohnen, Sich Kleiden, von Familienfesten und von Dingen, die menschliche Identität verkörpern, als von den jeweiligen politischen Systemen geprägt. Aus diesem Grund werden Alltagsgegenstände durch die an ihnen ablesbaren historischen Informationen zu Bausteinen für das kollektive Gedächtnis.

Sediment I und II, 1999-2000

Sediment I, 1999-2000, Detail

Während amerikanische Künstler der siebziger Jahre wie Claes Oldenburg, Tom Wesselmann oder George Segal Gegenstände zu alltagsidentischen Environments kombinierten, um Konsum und bürgerliche Lebenswelt ins Absurde zu führen, arbeitet Schefferski nach einem dialektischen System. Er entkleidet seine Objekte von allen erzählerischen Details, schneidet Teile aus ihnen heraus, löst sie aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang und provoziert so neue Assoziationsmöglichkeiten: die Waschtische haben ihre ursprüngliche Funktion verloren, die Vitrinen und Schränke werden leer übernommen, fotografische Bilder zerschnitten oder zerbrochen. In einem antithetischen Arbeitsgang kombiniert der Künstler diese rudimentären Objekte zu Assemblagen: Glasbehälter mit den jetzt unter Wasser konservierten Fotofragmenten werden aufgestellt, in den Vitrinen neue Ausstellungen arrangiert. Neue möblierte Räume, das Environment als eigentliches begehbares Kunstwerk, entstehen. Diese Arbeitsweise ähnelt der von Kurt Schwitters, der aus rudimentären stereotypen Objekten Collagen und den Merzbau (1924) als eines der frühesten begehbaren Kunstwerke entwickelte. Während jedoch die Dadaisten die verwendeten Materialien und Gegenstände als Teile einer künstlerischen Komposition ins Abstrakte überführten (3) und so „wunderbare Konstellationen in wirklichem Material“ (Raoul Hausmann, 1918) (4) gestalteten, werden die von Schefferski zur Raumcollage verbundenen Gegenstände Auslöser nicht nur von Erinnerungen, sondern auch von Denkprozessen. Durch ihre partielle Zerstörung und Entfremdung bietet er sie dem Betrachter als Bausteine des kollektiven Gedächtnisses an.

Sediment I, 1999-2000, Detail

Sediment I, 1999-2000, Detail

Der Besucher, der im Environment von Station zu Station geht, wird aus den keramischen Fotofragmenten, die von Grabsteinen zu stammen scheinen, menschliche Schicksale rekonstruieren. Er wird vor seinem geistigen Auge die Schubladen der Waschtische öffnen und der Hausfrau beim Abwaschen zusehen und in den neu entstandenen Raumsegmenten Möbel und Alltagsgegenstände zu Wohnzimmern und Küchen sortieren. Ihm öffnet sich ein weites Feld an Erinnerungen und Geschehnissen, die unbenannt bleiben, in denen er immer seine eigene historische und gesellschaftliche Position erkennt. Das Programm der Dadaisten, in Environments „Kunst und Leben“ miteinander zu verbinden, wird bei Schefferski durch aktive emotionelle und gedankliche Beteiligung des Betrachters an Alltagssituationen erfüllt.


(1) Christoph Rasch: A mosaic of memories from the historical remains collected by Roland Schefferski, in Mare Articum 1-2, Szczecin 1999, 55-57.

(2) Paolo Bianchi: Was ist ein Archiv?, in: Kunstforum international, Bd.146, 1999, 51.

(3) Kurt Schwitters: Dada ist das Wahrzeichen der Abstraktion, Herta Waescher: Die Geschichte der Collage. Vom Kubismus bis zur Gegenwart, Köln 1987, 182.

(4) Raoul Hausman: Synthetisches Cino der Malerei, 1918, in Die zwanziger Jahre. Manifeste und Dokumente deutscher Künstler, hrsg. Von Uwe Schneede, Köln 1979, 23f.