Ausstellung
Dieter Glasmacher. Gleiche und Ungleiche
Kunsthalle der Sparkassenstiftung Lüneburg, 14.10.-18.11.2018
Katalog, 96 Seiten, 2018, mit einer Einführung von Axel Feuß
Axel Feuß:
Sehr verehrte Freunde der Kunst,
am Anfang jeder Interpretation steht die Recherche. Der Inhalt von Kunstwerken erschließt sich erst, wenn wir die historischen und biographischen Hintergründe eines Künstlers und seines Kunstwerks, deren Einbettung in alle nur denkbaren sozialen und politischen Kontexte und natürlich in die allgemeine Stilentwicklung der Kunstgeschichte ausgeleuchtet und erforscht und diese Erkenntnisse dann mit dem zu interpretierenden Werk in eine sinnvolle Verbindung gebracht haben. „Sehen ohne zu wissen macht keinen Sinn“, pflegte mein späterer Doktorvater den Erstsemestern zu sagen. Daran habe ich mich vierzig Jahre lang gehalten und ich bin gut damit gefahren.
Die Arbeiten von Dieter Glasmacher wehren sich jedoch hartnäckig dagegen, bis zu Ende ausrecherchiert zu werden. Beispielsweise gibt es in dieser Ausstellung mehrere Aquarelle, die aufgrund ihrer spanischen Beschriftungen und der Daten, die auf ihnen vermerkt sind, ganz offensichtlich zusammengehören. Inmitten verlaufender Wasserfarben sind die Angaben „Estepona“, „8. Januar 2016“ und „Jacaranda“ zweifelsfrei zu lesen.
Da läuft doch etwas schief, 2016. Aquarell, 41 x 31 cm
Schnell kann man im Internet erfahren, dass es in Estepona, einem beliebten Urlaubsort an der Costa del Sol, eine Appartementanlage mit dem Namen Jacaranda gibt. Und selbstverständlich gönne ich dem Künstler und seiner Frau den Winterurlaub an der spanischen Küste von ganzem Herzen. Ein anderes Blatt mit dem Titel „Jetzt Bienen füttern“ trägt ebenfalls die Bezeichnungen „Jacaranda“ und „Estepona“, vermerkt aber das Datum vom 31. Dezember desselben Jahres. Vermutlich reisen der Künstler und seine Frau jedes Jahr dorthin. Das dritte Aquarell, eine Woche später, am 6.1.2017 entstanden, vermerkt „Jacaranda“, „Heilige 3 Könige“ und „Knall, Bumm und Glitzer“. Hat es an Heilige Drei Könige an der Costa del Sol ein Feuerwerk gegeben?
Knall, Bumm und Glitzer, 2017. Aquarell, 41 x 31 cm
Die Suchmaschine im Internet enthüllt jedoch, dass „Knall, Bumm und Glitzer“ der Titel einer Filmkritik in der Zeitschrift „Der Spiegel“ vom 13.5.2013 war, die sich dem Kinofilm „Der große Gatsby“ widmete und zu dem Resümee kam: „Dieser Film ist laut und leer und kalt.“ Ein weiteres Aquarell vom „5.1.2017 Donnerstag“ vermerkt im Bereich einer schief lachenden Figur mit krausem Haar: „La Caranta de los Reyes Magos“.
La Caranta, 2017. Aquarell, 41 x 31 cm
„Los Reyes Magos“ sind wiederum die Heiligen Drei Könige. Die Fortín La Caranta ist jedoch eine historische Festung auf einer Ferieninsel vor der Küste von Venezuela. Dort hat es am 6. Januar (allerdings 2018) im nahe gelegenen Restaurant La Caranta, so verrät mir das Internet, einen Feiertagsrabatt „Rebajas Reyes Magos“, also einen Rabatt zu Ehren der Heiligen Drei Könige, von zwanzig Prozent gegeben. Waren Glasmachers nun in Spanien oder in Venezuela im Urlaub, wo übrigens auch Spanisch gesprochen wird? Oder hat sich der Künstler in der Ferienanlage Jacaranda nur an die Hafenfestung La Caranta in Venezuela erinnert, die er vor Jahren während seiner Reise durch Südamerika besucht hat? Bei diesen Aquarellen passt manches also, was man im Internet ermitteln kann, zusammen, aber längst nicht alles. Und für meine Recherche gilt, was der Titel des ersten Aquarells vorausgesagt hat: „Da läuft doch etwas schief“.
Aquarelle dienen Glasmacher als schnelle Notate von Gesehenem, von Einfällen und Ideen auf Reisen und natürlich auch zuhause. Andere Künstler verwenden dafür meist Bleistift und Skizzenbuch. Glasmacher selbst sieht in ihnen „Sequenzen eines beeindruckenden Films“. Er erzähle sprunghaft, so sagt er, aus persönlicher Sicht, das, was ihn besonders begeistert, betroffen gemacht, mit- und eingenommen habe. Die auf den Aquarellen vermerkten Daten geben den Blättern den Charakter eines fiktiven Tagebuchs, in dem natürlich auch Erinnerungen aus dem heimatlichen Umfeld des Künstlers an der Unterelbe vermerkt sein können. „Jetzt Bienen füttern!“, Sie erinnern sich, meine Damen und Herren, an den Titel eines der anfangs erwähnten Aquarelle, „Jetzt Bienen füttern!“ prangt also beispielsweise als zentraler Slogan auf der Webseite des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Auf einem Acrylbild von 2005, das vor drei Jahren in der Galerie Herold in Hamburg ausgestellt war, war deutlich das Düngemittel „Agrosol“ zu sehen, das auch als Titel des Bildes diente.
Ein Kopf zuviel, 2016. Aquarell, 51 x 36 cm
Auf der Grundlage der aquarellierten Notizen, von unterschiedlichen Orten und aus verschiedenen Zeiten, entstehen später die großen Acrylbilder, die dann wiederum neue Geschichten mit ganz anderen Assoziationsketten erzählen. Schon immer hat der Künstler auf seinen weltweiten Reisen, die er zu Ausstellungen und für Studienzwecke nach Afrika, Südamerika und in Europa unternahm, Eindrücke von Land und Leuten, Motive aus der Volkskunst, Werbung und Markennamen, Graffiti an Hauswänden oder Kritzeleien an Toilettentüren in Aquarellen festgehalten. Reise- oder Urlaubsmotive sind auf den zuletzt entstandenen Blättern unter anderem: ein Tintenfisch auf dem Blatt „Ein Kopf zuviel“, ein grotesk geschminkter „Lady Boy“ von 2014, wie er einem in Thailand über den Weg laufen kann, ein Bärtiger am Strand, dessen weit aufgerissene Augen zu dem Wort „Wut“ korrespondieren, eine oder zwei auseinander entstehende Figuren auf einer „Luftmatratze“ mit einem gelbroten Sonnenschirm und schließlich ein am oberen Bildrand „eingeblendetes“ Kamel vom 31.12.2013, unter dem wiederum das Kürzel „Este …“ (vermutlich für Estepona an der Costa del Sol, gibt es dort Kamele?) verwirrt.
Wut, 2014. Aquarell, 41 x 31 cm
Luftmatratze, 2014. Aquarell, 40 x 31 cm
Das Wort „Toro“ auf einem Aquarell mit dem Titel „Nirgendwo“ von 2012 kann eine Kleinstadt in Kastilien, das spanische Wort für Stier, aber auch eine Produktbezeichnung für Rasenmäher bedeuten: „weltweit führend in der Rasen- und Landschaftspflege“, wie die zugehörige Webseite verspricht. Glasmacher arbeitet mit Doppeldeutigkeiten und Assoziationen, was alle Interpretationen, auch der Figuren und übrigen Bildsymbole, zweifelhaft erscheinen lässt. Wortfetzen, von verlaufenden Farbschichten oder Figuren überdeckt und von Blatträndern überschnitten, tragen zur Verwirrung bei und regen zu neuen Deutungen an.
Nirgendwo, 2012. Aquarell, 41 x 31 cm
Einmal auf dem Urlaubstrip, habe ich eine immer wiederkehrende Reihe von senkrechten Linien als Markisen in einem Strandcafé, als Zäune oder wenn sie sich kreuzten, als karierte Tischdecken auf einer Caféhaus-Terrasse gedeutet. Später hat Herr Glasmacher mir dann geschrieben, dass er an so etwas keineswegs gedacht habe. Diese waagerechten und senkrechten Farbstreifen würden lediglich durch die Arbeit mit einem vier- oder fünffachen Spezialpinsel entstehen, die dann nicht nur bei den Aquarellen sondern auch bei einer Reihe von Acrylbildern der Gliederung der Bildfläche dienen. Nun werden Sie mich, meine Damen und Herren, natürlich fragen, warum ich den Künstler nicht gleich nach der Bedeutung seiner vielfältigen Bildsymbole gefragt habe. Nun, erstens hätte das die Übermittlung ellenlanger Listen erfordert (Beantwortung natürlich ungewiss), denn Glasmacher und ich wohnen nicht gerade auf der Nachbarschaft. Zweitens denke ich, dass der Künstler und seine Frau auch den Schutz ihrer Privatsphäre verlangen können und nicht jeder definitiv zu wissen braucht, ob sie nun in Spanien oder in Venezuela Urlaub zu machen pflegen. Und drittens: Wäre uns, dem Künstler und zu allererst den Kunstwerken wirklich damit gedient, wenn wir jede der zahlreichen Geheimnisse, Bildsymbole und Assoziationen zweifelsfrei entschlüsseln und damit geradezu entzaubern würden? Warten wir doch einfach darauf, bis sich eine junge Forscherin findet, die für ihre Doktorarbeit die Reiseunterlagen der Familie Glasmacher mit den Kunstwerken zweifelsfrei abgleicht und hoffen wir darauf, dass dies niemals vollständig gelingen möge. Solange dürfen auch Sie, meine Damen und Herren, nach Herzenslust Markisen und gestreifte Tischdecken entdecken, wenn Sie das denn unbedingt möchten.
Ende der Geduld, 2017. Versch. Materialien auf Leinwand, 180 x 140 cm
Wir haben es bei den Arbeiten von Dieter Glasmacher eben nicht mit Werken des Mittelalters oder des Barocks zu tun, die historisch belegbare Inschriften enthalten, sondern mit einer bildnerisch-literarischen Mischform, die Assoziationen nicht nur erlaubt, sondern geradezu provoziert. Doch ganz weit hergeholt ist auch diese Assoziation nicht, denn Glasmacher hat mir geschrieben, dass die mittelalterlichen Altäre von Meister Francke und Meister Bertram in der Hamburger Kunsthalle während seiner Studienzeit so um das Jahr 1965 für ihn ein Schlüsselerlebnis gewesen seien, einerseits durch die Vereinzelung der Figuren, dann wegen der nur angedeuteten Perspektive und schließlich durch die auf den Bildtafeln gelegentlich sichtbaren Schriftbänder, durch die die dargestellten Heiligen mit den Betrachtern kommunizieren.
In der modernen Kunst existieren bildlich-literarische Mischformen, seitdem die Künstler der Dada-Bewegung um 1916 begannen, Schnipsel aus populärem Bildmaterial, Flugschriften und Zeitschriften in der damals neuen Technik der Collage zu neuen gesellschaftskritischen, humoristischen oder absurden Kunstwerken zu verarbeiten. Seitdem dient fragmentarisches sprachliches und figuratives Material in der modernen Kunst als Assoziationsträger. Hannah Höch, George Grosz, Kurt Schwitters, Max Ernst und viele andere waren die Künstler, die für diese Kunstentwicklung standen.
Erneut kommen solche collageartig verwendeten Relikte der Wirklichkeit in der Malerei ab 1960 vor, im Neuen Realismus bei Öyvind Fahlström und Wolf Vostell, im Informel bei Gerhard Hoehme, im Abstrakten Expressionismus bei Philip Guston und Robert Motherwell, in der Pop Art bei Robert Rauschenberg und Larry Rivers, in der Avantgarde der 1980er-Jahre bei Julian Schnabel, Volker Immendorff, Anselm Kiefer und Jean-Michel Basquiat. Sie haben ihren Ursprung zwar in der Erfahrungswelt der Künstler, appellieren aber an das Assoziationsvermögen der Betrachter. Glasmacher, der genau während der explosiven Erneuerungsphase der Malerei in den 1960er-Jahren studierte, nämlich von 1963 bis 1968 an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, und der sich in zahlreichen künstlerischen und gesellschaftskritischen Initiativen engagierte, interessierte sich für die Malerei von Jean Dubuffet, welcher seine Anregungen in Kinderzeichnungen und Kritzeleien an Hauswänden fand. Er fand Vorbilder in der ähnlich motivierten, aber expressiveren Malerei der Gruppe COBRA um Asger Jorn, Constant, Dotremont, Karel Appel, Carl-Henning Pedersen und Corneille und er begeisterte sich für die von Dubuffet gesammelte Art brut, also die Kunst von Outsidern, geistig und psychisch Kranken.
Verheerende Isolation, 2014. Acryl auf Leinwand, 200 x 150 cm
Glasmacher faszinieren seither öffentlich hingekritzelte und hingemalte, mehr oder minder banale Lebensäußerungen von jedermann und vor allem dann, wenn sie von anderen übermalt oder weitergezeichnet wurden und nur Rudimente von ihnen sichtbar sind. Auf seinen Aquarellen wiederholt sich diese Vielschichtigkeit von ungleichzeitigen skripturalen und bildlichen Statements durch das Übereinander der Notate, die sich in verlaufenden Wasserfarben überdecken oder durchscheinen. Sein figürliches Personal sind nervös-beulige und groteske Umrissfiguren, die nur wenig miteinander agieren, in knalligen Farben, meist nackt, mal amöbenhaft, mit sichtbaren Innereien und hängenden, sich schlängelnden oder erigierten Geschlechtsorganen. Meist stehen seine Figuren vereinzelt da und ertasten sich nur durch Blicke oder sexuelle Gier. Sie sind erwachsener als die Figuren von Dubuffet, lebendiger als die der Gruppe COBRA, flüchtiger als die meist monströsen Wesen, die die Künstler der Art brut meist exakt und minutiös zeichnen. Enge Verbindungen hat Glasmacher auch zur Kunst des Action Painting. Ähnlich sind nicht nur die Schnelligkeit der Arbeit, sondern auch das All-over, also das gleichmäßige Füllen der Bildfläche, das wir meist mit Jackson Pollock verbinden, das in der skripturalen (also der Schrift verarbeitenden) Kunst aber auch bei Gerhard Hoehme und Cy Twombly zu beobachten ist, in der abstrakt-figuralen Kunst bei dem Hamburger Jan Voss, der Glasmacher in seinem letzten Studienjahr beeindruckte und der heute in Paris lebt, oder in der Synthese von allen diesen Tendenzen eben bis heute bei Dieter Glasmacher.
All-over ist auch das durchgehende Gestaltungsprinzip der großformatigen Acrylgemälde, die collageartig aus vielen Einzelstudien zusammengesetzt sind. Das Figurenpersonal, das hier aufgrund der schwereren Farbkonsistenz exakter gemalt ist, ergänzt sich durch Mickymäuse, Krankenschwestern, Monster, Tiere und aus Zeitschriften ausgeschnittenen Köpfen und Gestalten, die in Malerei übertragen sind und seit jeher in Glasmachers Gemälden vorkommen. Ob der Künstler mit diesen ganz unterschiedlichen Figuren nach Art eines Comics eine Geschichte erzählt, müssen die Betrachter mithilfe ihrer Phantasie selbst entscheiden. Denn auch comicerprobte Charaktere wie Micky und Minnie Maus verhalten sich bei Glasmacher nicht immer artgerecht.
Amtlich garantiertes Wegsehen, 2017. Versch. Materialien auf Leinwand, 180 x 140 cm
Die über die Gemälde verteilten literarischen Statements stammen zum Großteil aus Überschriften der Zeitschrift „Der Spiegel“ oder aus der „Berliner Zeitung“. Letztere ist beispielsweise mit einem preisgekrönten Artikel des DuMont Journalistenpreises, „Amtlich garantiertes Wegsehen“ (genauso auch ein Bildtitel von Glasmacher) von 2017 über einen Pflegeskandal, vertreten. „Verknäuelte Interessen“ im selben Bild zitiert einen Artikel im „Spiegel“ aus dem gleichen Jahr. „Das schreckliche (Wort) Zu spät“, auch eine Schriftzeile auf demselben Bild, steht genau so in der Lebensgeschichte des Makedonen-Königs Philipp in Theodor Birts „Biografien und Sagen des Altertums“, wieder eine Fundstelle der Internet-Suchmaschine. Vielleicht waren die „Sagen des Altertums“ eine Urlaubslektüre von Glasmacher? Die Floskeln „Nicht übel“ und „Bis ins Detail“ auf diesem Bild sind hingegen so vage, dass sie allenfalls die Betrachter animieren können, neue Zusammenhänge zu konstruieren. Andere Headlines, die bei Glasmacher zu Bildtiteln werden, wie „Hausarrest für Hühner“, im selben Gemälde „Das Geheimnis der Glut“ und „Enger, dichter, besser“ stammen aus aufeinanderfolgenden Ausgaben des „Spiegels“ von 2016 und 2017, wieder andere wie „Seltsamer Kreislauf“ aus einer weit entfernten Ausgabe von 2008.
Hausarrest für Hühner, 2017. Versch. Materialien auf Leinwand, 180 x 140 cm
Seltsamer Kreislauf, 2014. Acryl auf Leinwand, 200 x 150 cm
Diese engagiert formulierten Schlagzeilen und Bildtitel, aber auch die von Glasmacher gesammelten bildlichen Ausschnitte aus Zeitschriften und Haushaltsblättchen, die gesellschaftlich Anrüchiges, Monströses, Grausames ebenso wie Kurioses und Humorvolles zeigen und immer wieder Eingang in die Gemälde finden, haben Glasmacher zum Künstler einer „Betroffenheit von aktueller gesellschaftlicher Unterdrückung und Deformation" werden lassen. Viele dieser gesammelten Ausschnitte sind übrigens im Katalog zur heutigen Ausstellung, den ich Ihnen, meine Damen und Herren, sehr ans Herz legen möchte, abgebildet. Dabei darf aber die humoristische Seite von Dieter Glasmacher, seine Freude an Sprachkapriolen, die sich vor allem an Slogans und Headlines abarbeitet, nicht vergessen werden. Wer den entsprechenden Artikeln nachspürt, was heute, wie gesagt, mithilfe des Internets vergleichsweise einfach ist – noch vor zwanzig Jahren wäre das geradezu unmöglich gewesen, – wird tatsächlich vor allem gesellschaftspolitische Themen finden. Und die Assoziationsketten, die der Künstler dann in seinen Gemälden in der Zusammenschau anbietet, sind keineswegs willkürlich. Die Schlagwörter „Kabakon“ und „Kokovore“ beispielsweise in dem Gemälde „Armutsbewusstsein“ von 2012 weisen auf den verkrachten Aussteiger August Engelhardt hin, der 1902 in der Südsee einen „Sonnenorden“ gründete. Dazu korrespondiert das Wort „Mitumba“ am unteren Rand des Bildes, das auf Altkleider hinweist, die heutzutage als Hinterlassenschaft der Europäer in Entwicklungsländern abgeladen werden. Hinterlassenschaft der Europäer in der sogenannten "exotischen" oder "Dritten Welt" beides, der frühe Aussteiger Engelhardt und die Altkleider von heute. Die Verbindung darf dann jeder für sich selbst ziehen.
Armutsbewusstsein, 2012. Acryl auf Leinwand, 200 x 150 cm
Hinzu kommen in dieser Ausstellung bunt bemalte und glasierte Keramikfiguren, durch die das groteske Personal aus Dieter Glasmachers Aquarellen und Gemälden in die Wirklichkeit tritt. Sie reichen – wie die Figuren auf seinen Bildern – vom Ethnographischen wie etwa die Figur „Big Mama“ über das Satirische wie die Figur „Micky Maus Moderator“ bis hin zum Gruseligen wie das „Pantoffeltierchen mit Maden“. Diese Plastiken sind der beste Beweis dafür, dass der Künstler es mit der Gesellschaftskritik nicht allzu verbissen nimmt. Merkwürdigerweise fühle ich mich bei seiner Art des hintergründigen Humors immer wieder an den großen Karikaturisten F.K. Waechter erinnert, der natürlich ganz anders gearbeitet hat, was möglicherweise daran liegt, dass beide derselben Generation angehören (Waechter war nur drei Jahre älter) und beide in den 1960er-Jahren in einem linken Milieu ihre künstlerischen Anfänge hatten und beide immer gattungsübergreifend arbeiteten.
M. M. Moderator, 2015. Ton, gebrannt, H=18 cm
Pantoffeltierchen mit Maden, 2016. Ton, gebrannt, H=26 cm
Glasmacher kam über eine Ausbildung als Musterzeichner und Patroneur und Abendkurse an der Werkkunstschule in Krefeld zu einem Studium der Malerei an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, das er (wie schon gesagt) von 1963 bis 1968 bei den Professoren Hans Thiemann und Klaus Bendixen absolvierte. 1966 wurde er als Aktionskünstler bekannt und initiierte eine „Weltmeisterschaft im Dauermalen“. 1969 malte er zusammen mit Werner Nöfer das erste große Fassadengemälde Europas an einem Gebäude in der Großen Freiheit in Hamburg, dem andere folgten. Ab 1970 war er als Spurensucher und Spurensicherer tätig und widmete sich der „Heintje-Forschung“, die er im Jahr darauf in einem Film für NDR III dokumentierte. Ein Trickfilm, „Maria Martinez Lopez“, folgte. Seit 1977 ging Glasmacher auf weltweite Studienreisen, zunächst und dann noch einmal 1980 nach Westafrika, 1982 auf eine Segelreise in die Arktis und nach Spitzbergen, 1985 nach Ägypten, 1989 nach Peru und noch im selben Jahr als Gastdozent nach Abidjan an der Elfenbeinküste. Von 1980 bis 1995 arbeitete er als Professor an der Fachhochschule für Grafik-Design in Düsseldorf, von 1995 bis 2003 als Professor im Fachbereich Gestaltung an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in der Armgardstraße in Hamburg. Atelier und Wohnung hat er seit 1986 in Wischhafen-Neulandermoor an der Elbe.
Seine Kunst hat über die Jahrzehnte nichts an Frische eingebüßt, auch wenn wir Glasmacher heute mit Fug und Recht als Klassiker der Moderne bezeichnen dürfen. Die Listen seiner Einzel- und Gruppenausstellungen sind mit den Stichworten „weltweit“ und „ellenlang“ zu beschreiben. Dennoch finden wir seine Ausstellungen regelmäßig in Galerien und Ausstellungsinstitutionen in unserem norddeutschen Umkreis, dem er besonders verbunden ist, in Hamburg, Celle, Glückstadt, Buxtehude oder heute bei Ihnen in Lüneburg. 2016 hat ihm die Heitland-Foundation in Celle ihren alle zwei Jahre ausgelobten Preis verliehen.
Auf der Entdeckungsreise durch die heutige Ausstellung wünsche ich Ihnen, meine Damen und Herren, viel Vergnügen.