Ausstellung
eindeutig nicht reversibel
ein archaisches Erschrecken vor der existentiellen Endgültigkeit
STEPHAN HAIMERL
KUNST&CO, Flensburg, 19. September – 15. Oktober 2014
Katalog: http://stephan-haimerl.de/fileadmin/user_upload/publikationen/Portfolio_eindeutig_nicht_reversibel_web.pdf
Katalog: http://stephan-haimerl.de/fileadmin/user_upload/publikationen/Portfolio_eindeutig_nicht_reversibel_web.pdf
Axel Feuß:
Ausstellungseröffnung
Sehr verehrte
Freunde der Kunst,
Einhundert Jahre
nach Erfindung der abstrakten Kunst, deren Beginn durch das „Schwarze Quadrat
auf weißem Grund“ (1913) von Kasimir Malewitsch markiert wird, versagt die
Zeitleiste, auf der wir bislang die ungegenständliche Kunst in ihrer
stilistischen Abfolge kategorisiert haben. Wer glaubte, dass alle Stilformen
und alle Möglichkeiten der abstrakten Kunst in klarer Abfolge durchdekliniert
sind und dass alles gesagt ist, wird von Stephan Haimerl eines Besseren
belehrt. Haimerl zeigt, dass sehr wohl neue Entwicklungen und eine frische,
unverwechselbare künstlerische Handschrift möglich sind. Angesichts der
Vielfalt an Formfindungen, Techniken, Zeichen, stilistischen Zitaten und
Rückbezügen, Farbräumen und Gefühlsebenen ist der erzählerische Ertrag seiner
Bilder womöglich höher als der der gegenständlichen Kunst.
Die
Kunstgeschichtsschreibung hat bislang wenig Geist auf die Frage verwendet, ob
in der abstrakten Kunst nicht tatsächlich auch abstrakte Begriffe wie Bewegung,
Zeit, Bedrohung, Bedrückung, Freude, Melancholie, Brutalität, Vergänglichkeit,
Gefahr, Relativität oder noch kompliziertere Vorgänge wie das Überlagern von
Ansichten und Lebenswelten oder sogar die gesamte Diversität, also die
Veränderung, Abwechslung und Vielfalt des Daseins dargestellt werden können.
Meist beschreiben Autoren die formalen Unterschiede, Neufindungen oder
Rückgriffe und verstecken die abstrakte Begrifflichkeit in literarischen
Umschreibungen. Von Willi Baumeister etwa wird gesagt, dass im Laufe seines
Lebens das Schwarz in seinen Bildern „wie eine dunkle Drohung“ immer
beherrschender werde, nicht aber, dass er Bedrohung tatsächlich darstellen
wollte. Bernard Schultze sagt man einen Hang zum Grübeln und Spintisieren nach,
nicht aber, dass er Grübeln und Spintisieren als abstrakte Begriffe in seinen
kleinteiligen Zeichnungen und monsterartigen Skulpturen tatsächlich ins Bild
setzte. Kaum ein Kunstkritiker hätte zugegeben, dass er oder sie vor einem
monochrom blauen Bild von Yves Klein vielleicht eine halbe Stunde zugebracht
und Zeit, Raum, Materialität, Faszination, sogar Glück empfunden habe, während
neunzig Prozent der anderen Ausstellungsbesucher Yves Kleins angebliche
Scharlatanerie (wieder ein abstrakter Begriff) keines Blickes würdigten. Er
oder sie hätte geschrieben, dass vor Yves Klein niemand so etwas gewagt habe,
ohne aber den Begriff Wagnis mit dem Bild direkt in Beziehung zu setzen.
Immerhin, Karl Ruhrberg wagte mehr, als er die von Klein 1958 in der Pariser
Galerie Iris Clert weiß gestrichenen Wände, auf denen nichts zu sehen war,
beschrieb als die „malerische Formulierung des Verstummens und der
Sprachlosigkeit, mithin als pointierten Ausdruck einer geistesgeschichtlichen
Situation“.
Worin ist die
Sprachlosigkeit der Kunstgeschichte begründet, wenn es um die konkrete
Benennung abstrakter Begriffe in der zeitgenössischen Kunst geht? Jahrhunderte
lang waren die Kunstbetrachter gewohnt, dass ungegenständliche Begriffe in der
bildenden Kunst in menschliche Gestalten, also in Personifikationen oder
Allegorien übertragen wurden. Das Mittelalter benutzte Frauen- und
Männergestalten zur Darstellung von Tugend, Laster und Glück (in der Gestalt
der Fortuna), die Renaissance verbildlichte Wucher und Tyrannei, die Stillleben
des flämischen Barock den leeren Schein (lat. vanitas) und die fünf Sinne. Bei
Delacroix sehen wir, dass die „Freiheit“ in Gestalt einer halb nackten
Fahnenträgerin das Volk anführt, bei Caspar David Friedrich, dass man die
„Gestrandete Hoffnung“ einer nationalen und demokratischen Erneuerung als
Schiffswrack „Im Eismeer“ darstellen konnte. Die Symbolisten trieben am Ende
des 19. Jahrhunderts die Verschlüsselung abstrakter Begriffe in Figurenszenen
und Landschaften auf die Spitze. Edvard Munch, der seine Figurenbilder mit
abstrakten Begriffen wie Angst, Eifersucht, Einsamkeit oder Melancholie
betitelte, tat dies noch bis ins Jahr 1913. Es verwundert daher nicht, dass ein
zunächst radikales formal-ästhetisches Experiment wie das im selben Jahr von
Malewitsch gemalte „Schwarze Quadrat auf weißem Grund“ für die Kunstkritik
keine abstrakten Themen des menschlichen Erlebens besetzen konnte.
Die Künstler hatten
damit weniger Probleme. Willi Baumeister formulierte Mitte der Fünfzigerjahre
die Verbindung zwischen ungegenständlicher Formenwelt und abstrakter Begrifflichkeit: „Die abstrakten
Formen können wirkliche Kräfte enthalten, bewahren oder aufnehmen … Ungegenständliche
Ausprägungen des menschlichen Geistes sind dem Transzendenten geöffnet.“ Der
französische Tachist Jean Miotte setzte ungegenständliche Malerei mit der
abstrakten Welt des Geistigen und der Gefühle gleich: „Malen ist eine Handlung,
ein Bewegungsablauf, den man in sich trägt, der seinen Ursprung im Inneren
hat.“ Andere, wie die amerikanischen Maler des Action Painting Bradley Walker
Tomlin und Clyfford Still oder die Maler des europäischen Informel Hans Hartung
und Pierre Soulage, widersetzten sich den ewigen Vergleichen mit der gegenständlichen
Malerei und dem Zwang, Bildtitel erfinden zu müssen, indem sie ihren Bildern
Nummern gaben oder sie mit dem Datum ihres Entstehens betitelten.
Seitdem sind über
fünf Jahrzehnte vergangen. Auch wenn sich bislang keine ein- oder auch
mehrdeutige Ikonographie – also eine Kunde von den Themen, Motiven und Inhalten
der abstrakten Kunst – herausgebildet hat, so verfügen wir jedoch
durch die literarischen Beschreibungen der vergangenen Jahrzehnte über ein
breites Spektrum an Konnotationen, also emotionalen Vorstellungen, die wir mit
den einzelnen Phasen der abstrakten Kunst verbinden. Mit der Malerei von Max
Bill und seinen Nachfolgern verknüpfen wir die Faszination für Maß und Zahl,
das Konkrete und die Reinheit der Mittel, mit der von Paul Lohse die Harmonisierung
von Mensch und Umwelt. Die Malerei des Informel steht für den Ausdruck und die
Handschrift des Malers, Baumeister für das Transzendente und die Einsetzung
einer Ordnung über das Chaos, die Gruppe COBRA für den leidenschaftlichen
Ausdruck, Tapies für die Urformen der Menschheit, das Action Painting für den
psychischen Automatismus, die amerikanische Farbfeldmalerei mit Barnett Newman
und Mark Rothko für die reine Idee, Vision, Erleuchtung oder die Endlosigkeit
des Raums, die Farbschöpfungen von Otto Piene für Licht und Energie – um nur einige dieser Konnotationen zu nennen,
die teilweise aus den Selbstäußerungen der Künstler stammen.
Buntstift/Spray auf Papier, 55,5 x 50 cm
Stephan Haimerl: 4 C, 2014
Acryl auf Leinwand, 120 x 110 cm
Während die
Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts ihrem einmal gefundenen Ausdruckssystem
treu blieben (niemals wurde aus einem Tachisten später ein Farbfeldmaler oder
umgekehrt), fügt Stephan Haimerl diese verschiedenen Ausdruckssysteme und die
mit ihnen verbundenen Konnotationen in einem Bild zusammen. Das ist ebenso neu
wie verblüffend. In seinem Bild „rasenstück“, einer Arbeit auf Papier, sehen
wir an den seitlichen Rändern aus dem Lot geratende, gerade begrenzte
Farbbalken, die wie bei den Künstlern der Gruppe De Stijl um 1920 eine neue
Ordnung, ein an Licht, Farbe und Konstruktion orientiertes neues System andeuten
können. In der unteren rechten Ecke auf der sonst weiß belassenen Fläche finden
wir dagegen eine mit Farbstiften gekritzelte Linienfigur, die an Cy Twomblys
Schriftbilder vom Ende der Sechzigerjahre erinnert. Mit ihnen verbinden wir
chaotische Zustände von Liebe, Sexualität und Gewalt. In Haimerls großem
Acrylbild „4 C“ begegnet uns verhaltenes Action Painting wie bei Clifford
Still, in dem die Spuren, Überdeckungen und Grate des breit gestrichenen
Schwarz ebenso sichtbar bleiben wie die Laufspuren der darunter liegenden
orangen Felder. Darüber fallen wie Blätter sorgfältig abgeklebte blaue Figuren
in Formen minimalistischer Malerei, wie wir sie von Richard Tuttle kennen. Hier
überlagern sich das Interesse am Malprozess, die malerische Gebärde und die Auseinandersetzung
mit der Farbe auf der großen Bildfläche und der Gegensatz zwischen
Gegenständlichem und Abstraktion in den geometrisch begrenzten fallenden
blattähnlichen Formen.
Stephan Haimerl: tuempeltaucher, 2014
Acryl auf Leinwand, 72 x 65 cm
Breit gestrichenes
Action Painting finden wir in dem kleineren Acrylbild „tuempeltaucher“, darüber
aber schwarze expressiv hingeschriebene Bildzeichen wie bei Pierre Soulage oder
Franz Kline. Bei den größeren Acrylbildern „redouten“ und „monstern“ liegen
darüber jedoch abgeklebte rote oder hellblaue Kreuze und Keile oder schwarzgelb
gemusterte Warnbaken, die auf Pop Art oder Zeichensysteme der technisierten
Umwelt hindeuten. Eine missglückte Form des Möbiusbandes – wie der Künstler
selbst titelt – liegt einmal über grau gestrichenen Flächen, mutiert in dem
Bild „wndrschn“ zu einer Struktur des psychischen Automatismus oder in dem
Acrybild „im trüben fischen“ zu einem mit der Spraydose geschriebenen Tag, wie
wir es aus der Graffiti-Kunst kennen. In Haimerls Bildwelt überlagern sich also
nicht nur Bedeutungsebenen, sondern auch Zeitstufen, die die Entwicklung der
abstrakten Kunst von ihrem Beginn bis heute neu interpretieren. Das führt uns
nicht nur die Komplexität der uns heute zur Verfügung stehenden visuellen
Erfahrungen, sondern auch die damit verbundenen inhaltlichen Konnotationen vor
Augen.
Stephan Haimerl: redouten, 2014
Acryl/Lack auf Leinwand, 120 x 110 cm
Stephan Haimerl: monstern, 2014
Acryl auf Leinwand, 172 x 188 cm
Thomas Hartmann,
Professor an der Akademie der bildenden Künste in Nürnberg, bei dem Haimerl
seit 2008 Meisterschüler war, sah in dessen Bildern das „Lebensgefühl der
Dreißigjährigen“: „Ähnlich den DJs in den Clubs mixt er visuelle Elemente. Nicht
nur das. Stephan Haimerl kombiniert die Versatzstücke populärer Kultur mit den
Errungenschaften der künstlerischen Bildsprache aus den letzten Jahrzehnten,
wie Informel, Action Painting, monochrome Farbfeldmalerei, Pop-Art. Er macht
Anleihen von Polke bis Majerus und versucht, die Grenzen seiner Malerei neu
auszuloten.“ Haimerl selbst charakterisiert seine Malerei als „einen Aspekt des
Zusammensetztens“: „‚Ich setze zusammen‘ kommt daher, wie ich ein Bild aufbaue,
wie ich einen Bildraum organisiere, um so etwas wie Tiefe oder Perspektive zu
bekommen, aber auch etwas wie eine Geschichte, etwas Narratives oder auch
völlig Unverständliches zusammenzusetzen, aus Teilen, die im ersten Moment gar
nicht zusammengehen. Eine flächige Farbfeldmalerei und eine feine lyrische
Linienzeichnung, oder eine klar abgegrenzte, abgeklebte Form, die neben einem
fetten, schrundigen Rakelzug oder einem rotzigen Sprayflecken steht.“
Tatsächlich legt Haimerl bei seiner Malerei den größten Wert auf die
Materialität: auf die Wirkung eines speziellen Papiers, die optische und
haptische Ausstrahlung einer Farbe und einer Struktur, die Wirkung eines
künstlerischen Duktus, das Erscheinungsbild einer gestalteten Fläche.
Stephan Haimerl: Möbius - missglückt, 2011
Acryl auf Papier, 46 x 38 cm
Stephan Haimerl: wndrschn, 2013
Acryl auf Leinwand, 42 x 35 cm
Ob diese inhaltlichen Konnotationen bewusst oder aus dem Unterbewusstsein in den malerischen Vorgang einfließen, wird dann unerheblich, wenn wir sie der Erfahrung, dem Können, dem Intellekt und natürlich auch dem kunsthistorischen Wissen des Künstlers zuschreiben. Gerade im Hinblick auf das Action Painting, das einen wichtigen Teil von Haimerls Kunst ausmacht, ist immer wieder auf das Zusammenwirken verschiedener Bewusstseinsebenen hingewiesen worden. Der Ausstellungstitel „eindeutig nicht reversibel“ mag auf die Technik des Malvorgangs gemünzt sein; denn gestische Malerei in lasierenden Farben mit gesprühten Flächen und feinen Linien wäre nur dann umkehrbar, wenn man die Leinwand pastos übermalen würde, und das ist nicht Haimerls Technik. „Ein archaisches Erschrecken vor der existenziellen Endgültigkeit“, so der Untertitel, kann allerdings auch auf die Erkenntnis unbewusster Faktoren beim Malvorgang wie auch auf das Mitschwingen inhaltlicher Konnotationen abheben, die sich für die abstrakte Kunst herausgebildet haben. Nicht nur das Zusammenfügen erzählerischer Elemente, auch das Arbeiten auf mehreren Erzählebenen ist also charakteristisch für die Arbeiten von Stephan Haimerl.
Dies gilt ebenso für die Bildtitel. „rasenstück“ für eine expressiv gekritzelte Figur auf weißem Grund mit seitlichen konkreten Farbbalken mag eine Transformation des berühmten Werks von Albrecht Dürer in die moderne Zeit sein, eine Hommage an das künstlerische Vorbild, vielleicht und noch eher eine Persiflage, für andere, denen Dürers „Rasenstück“ kein Begriff ist, ein Bezug zur Natur und ein Hinweis auf die Möglichkeiten der Abstraktion. Vielleicht erinnerte sich der Künstler bei seinem spontanen Gekritzel an das Gewusel natürlicher Strukturen und einzelne herausragende Halme in einem Rasenstück, vielleicht bezeichnet der Titel aber auch nur den Tag, an dem der Künstler Dürers „Rasenstück“ erneut gesehen und anschließend seine eigene Arbeit geschaffen hat. In jedem Fall fügen Haimerls Bildtitel, die auch literarische Schnipsel aus Sprichwörtern („im trüben fischen“), Songtexten („tage wie diese“) oder Fernsehsendungen („nightswatch“) sein können, dem Bild, das ohnehin über mehre Erzählebenen verfügt, zusätzliche Erzählstränge hinzu, die der Betrachter für sich selbst weiterspinnen kann. Einmal gefunden sind auch diese Titel „eindeutig nicht reversibel“, denn so wurden die Bilder im Katalog benannt, so wurden sie verkauft oder als Foto im Dateiordner abgelegt. Von da an müssen der Künstler und die Betrachter mit dem Titel und den mitschwingenden Bedeutungsebenen leben.
Eine besondere
Herausforderung für den Künstler stellen Wandarbeiten dar, von denen wir heute
auch bei „Kunst & Co“ drei zu sehen bekommen. Einen künstlerischen Duktus,
eine spontane Struktur oder Action Painting ins große Format und auf den oberen
Teil einer Wand zu übertragen, geht nicht ohne technische Hilfsmittel. Dennoch
verzichtet der Künstler nicht auf den spontanen Zugriff. Welche Teile aus dem
vorangegangenen kleineren Entwurf auf die Wand übertragen, welche spontan auf
der Wand entstanden sind, mögen Sie, meine Damen und Herren, untereinander
diskutieren. Wandarbeiten, die teilweise auch den Fußboden mit einbeziehen,
gibt es von Stephan Haimerl als permanente Kunst im Innenraum unter anderem
seit 2013 in der Nürnberger Sparkasse, seit 2011 in einer Ausbildungsstätte der
dortigen Handwerkskammer und es gab sie ab 2006 als temporäre Arbeiten auf
verschiedenen Ausstellungen des Künstlers. „Eindeutig nicht reversibel“ ist so
eine Arbeit, wenn sie wie hier bei „Kunst & Co“ wenige Stunden vor der
Eröffnung fertiggestellt wird. Ihre „existentielle Endgültigkeit“ verliert sie
jedoch nach Ende der Ausstellung beim Übertünchen der Wand. Wenn Sie, meine
Damen und Herren, nicht mehr eindeutig feststellen können, was geplant und was
in spontaner Aktion auf die Wand gekommen ist, dann erkennen Sie (hoffentlich)
die Meisterschaft des Künstlers.
Ich danke für Ihre
Aufmerksamkeit.